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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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wartete. Aurelio ließ den Mörder seiner Mutter passieren. Er lauschte seinem eigenen Atem, bis er sicher war, dass niemand dem Söldner folgte, zwängte sich aus dem Spalt, schlich hinter ihm her, sprang ihn an wie eine Katze, riss ihm die Kapuze vom Kopf und durchtrennte ihm mit einem einzigen Schnitt die Kehle.
    Mit gegrätschten Beinen, das Messer fest umschlossen, stand Aurelio über dem röchelnden Leib des Söldners, dessen einer Arm noch ziellos in der Luft tastete, während aus seinem Hals stoßweise das Blut in den Rasen sickerte. Neben seinem Gesicht lag die Fackel, die im nassen Gras gegen ihr Erlöschen ankämpfte. Ohne etwas zu fühlen, betrachtete Aurelio die Augen, die auf der Suche nach einer Erklärung umherzuckten. Schließlich beugte er sich in ihr Sichtfeld. Nichts. Nur ein stummes Fragen. Sie hatten Aurelio längst vergessen. Es war ein Tag wie jeder andere gewesen, damals. Nicht jedoch dieser. Den heutigen Tag würden diese Augen niemals vergessen – vorausgesetzt, sie hätten eine Gelegenheit, sich zu erinnern. Was sie nicht haben würden.
    Während ihm der Regen von Kinn und Nase rann, wartete Aurelio, bis die Augen des Söldners erstarrten und er zugleich mit der im Gras liegenden Fackel sein Leben aushauchte. Erst dann wischte er am Umhang des Toten sein Messer ab und steckte es in sein Futteral zurück. Aurelio richtete sich auf und blickte zur vatikanischen Mauer hinüber. Er fühlte nichts. Weder Angst noch Bedauern, weder Mitleid noch Genugtuung. Er wusste nur eins: Sein Leben, so wie er es kannte, endete hier und jetzt. Von diesem Moment an würde nichts mehr je wieder so sein wie vorher. Er verließ den Vatikan, wie er gekommen war, und verschwand über den Petersplatz in die Nacht der Ewigen Stadt.

LXII
    So, wie sie gegen die Tür hämmerten, würden sie vermutlich mit seiner Hinrichtung nicht warten, bis ein Richter ihn schuldig gesprochen hätte. Möglich, dass sie das Urteil gleich an Ort und Stelle vollstreckten. Aurelio saß im Vorraum, wie er damals hier gesessen hatte, als er seinen Meister zur Rede stellen wollte. Er hoffte, sie würden ihn erst an einen anderen Ort bringen. Michelangelo sollte seinen geliebten Gehilfen nicht ermordet in seinem Haus vorfinden. Vielleicht müsste er nie davon erfahren. Es würde einfach so aussehen, als sei er … gegangen. Wieder hämmerte eine Faust gegen die Tür. Aurelio erhob sich von seinem Schemel. Besser er öffnete, bevor sie die Tür einschlagen und unweigerlich Beato aus dem Schlaf reißen würden. Sein Meister war noch nicht zurückgekehrt. Wahrscheinlich saß er bei seiner Statue und hoffte auf Trost und Erlösung. Er wusste nichts von Aphrodites Verbrennung, nichts von dem toten Söldner, nichts von dem Schicksal seines Gehilfen, das so vehement gegen die Tür klopfte. Ein Glück, dachte Aurelio. So müsste Michelangelo wenigstens nicht Zeuge davon werden, wie sie ihn verhafteten. Er hob den Riegel an und öffnete die Tür.
    Was er sah, ließ sich mit dem, was er dachte, nicht übereinbringen. Aphrodite? Mit dem schwarzen Schleier, den er vorhin in die Nacht hatte davonschweben sehen? War die Kurtisane gekommen, um sich die versprochene Zeichnung zu holen? War sie ein Geist? Weshalb wurde er nicht in Haft genommen? Was war mit der Verbrennung und dem Scheiterhaufen? Und dem Söldner mit den Fischaugen? Aphrodite sagte etwas, doch auch das ergab keinen Sinn. Beeilen? Weshalb? Würden sie fliehen, gemeinsam? Aphrodite sprach weiter: Zwei Informanten des Papstes. Giovan Simone … Aurelio spürte, dass all dem, was er sah und hörte, ein schwerwiegender Fehler zugrunde liegen musste. Und dann, endlich, wusste er, wer es war: »Margherita?«, unterbrach er sie mitten im Satz.
    Ihr Schleier drehte sich von rechts nach links, dann schob sie Aurelio unsanft in den Vorraum zurück und schloss die Tür. »Willst du deinem Meister das Leben retten oder nicht?«, fragte sie.
    Giovan Simone hatte die Stadt nicht verlassen. Das war die nächste Information, die zu Aurelio durchdrang. Der Dukaten, den Michelangelo seinem Bruder gegeben hatte, war in den Räumen eines namenlosen Bordello in Trastevere verpufft – zwischen vier Armen, die zwei Huren gehörten, um genau zu sein. Eine davon war Margherita gewesen. Er hatte sich betrunken, maßlos. Maßlos genug jedenfalls, um Margherita für ihre Dienste eine halbe Monatsmiete zu versprechen. Erst, als er anfing, zwei Trinkgenossen sein Leid zu klagen und lauthals auf seinen Bruder und

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