Der Sixtinische Himmel
ankündigte und alle hinausschickte, um ungestört den Vespergottesdienst vorzubereiten.
Julius hatte unterdessen den verregneten Tag damit verbracht, ein Bankett für den Gesandten Parmas zu veranstalten, sich im Theatersaal des Palastes an der Aufführung einer Komödie zu erfreuen und der Rezitation klassischer Gedichte zu lauschen. Jetzt wollte er sehen, was er seit Jahren so begierig erwartete: die fertige Sistina. Morgen, am Tag der offiziellen Enthüllung, würde sich ganz Rom in der Kapelle drängen. Den Papst aber verlangte es nach einer privaten Enthüllung, nur für sich und sein Gefolge. Als er mit seinem Hofstaat, seinen Gästen, seiner Leibgarde und nicht weniger als siebzehn Kardinälen aus dem Palast kam, um gemäßigten Schrittes unter dem Schutz eines ihn begleitenden Baldachins zur Sixtinischen Kapelle hinüberzuschreiten, lehnte Michelangelo, der Aurelio und Beato nach Hause geschickt hatte, im Regen neben dem Eingang und konnte sich vor Erschöpfung kaum mehr auf den Beinen halten.
»In Gottes Namen: Bringt diesem Mann einen trockenen Umhang!«, rief Julius, als er ihn erkannte.
Der Papst wies Michelangelo an, sich ihm anzuschließen. Dann ließ er den gesamten Zug anhalten, murmelte einen lateinischen Segen und stützte sich auf seinen Stock. Er zitierte den Bildhauer zu sich, flüsterte ihm ein »Enttäuscht uns nicht« ins Ohr und vollführte eine ungeduldige Geste, die Paris de’ Grassi bedeuten sollte, endlich die Türen öffnen zu lassen.
* * *
Noch in derselben Nacht notierte der päpstliche Zeremonienmeister in seiner Chronik, dass Julius beim Betreten der Kapelle vor Ergriffenheit auf die Knie gesunken und hemmungslos schluchzend in Tränen ausgebrochen sei. Eine Reaktion, die niemand je zuvor bei ihm beobachtet hätte. Und tatsächlich erging es Julius wie den meisten, die an diesem und den folgenden Tagen zur Sistina pilgern sollten: Kaum hatte er die Kapelle betreten und seinen Blick zur Decke gerichtet, ließ ihn die Größe und Erhabenheit von Michelangelos Schöpfung demütig auf die Knie sinken. Selbst diejenigen, die bei der Enthüllung der ersten Gewölbehälfte zugegen gewesen waren, hätten sich eine derartige Wirkung des Gesamtkunstwerks nicht vorzustellen vermocht.
Später gestand Julius seinem Zeremonienmeister, dass sich ihm beim Betrachten des Freskos das göttliche Wesen des Menschen in einer Weise offenbart habe, die einen Orkan in seinem Kopf und seinem Herzen entfesselt und ihn mit ungekannter Macht auf sein eigenes, vergangenes Leben zurückgeworfen habe: seine Jugend, seine langen Jahre im Exil, sein später Triumph über Alexander, die Jahre seiner Regentschaft, die apokalyptische Niederlage bei Ravenna, die göttliche Mission, die er zu einem unseligen Ende geführt hatte, weil er vor den wollüstigen Klauen eines teuflischen Dämons kapituliert hatte. Und schließlich: sein nahendes Ende. Sehr bald würde er seinem Schöpfer gegenübertreten. Was hätte er dann zu erwarten? Papst Julius Caesar II., der Mann, dem der Zweifel immer nur als Zeichen der Schwäche gegolten hatte – konfrontiert mit seiner eigenen Sterblichkeit, sah er sich plötzlich aller Gewissheit beraubt.
Dies war der Moment, in dem eine schicksalhafte Überzeugung aus den Wirren seiner Gefühle und Gedanken hervorbrach und so klar umrissen vor ihn trat wie das goldene Kreuz, das über dem Altar leuchtete. Schmerzerfüllt blickte Julius zum leeren Balkon hinüber, in dessen Schatten die verschleierte Aphrodite noch die Enthüllung der ersten Gewölbehälfte verfolgt hatte. Kaum hörbar flüsterte er: »Verzeiht mir, Herr.« Dann brach er tatsächlich in Tränen aus, streckte sich auf den Boden hin, breitete die Arme aus und presste die linke Wange auf den kalten Stein, über dem die heiligste aller Kapellen errichtet worden war. Einer nach dem anderen taten es ihm seine Kardinäle nach. Am Ende lagen gut drei Dutzend Menschen, davon achtzehn in scharlachroter Soutane, mit ausgebreiteten Armen auf dem Boden und dankten, jeder für sich, ihrem Schöpfer.
Michelangelo, der sich in eine Ecke zurückgezogen hatte, entging nicht, dass auch Bramante Tränen in den Augen hatte. Wenngleich die Ergriffenheit des Baumeisters von Neid und Missgunst durchsetzt war: All seine Intrigen, seine Versuche, Raffael als den größeren Künstler zu positionieren, seine Voraussagen, Michelangelo werde sich der Aufgabe nicht gewachsen zeigen – im Angesicht des fertigen Freskos mussten sie andächtig
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