Schattennacht
1
Umgeben von Gemäuer und in Schweigen gehüllt, saß ich an meinem hohen Fenster, während der dritte Tag der Woche in den vierten überging. Der Fluss der Nacht strömte weiter, ohne sich um den Kalender zu kümmern.
Ich hoffte, jenen magischen Augenblick zu erleben, in dem richtig Schnee zu fallen beginnt. Vor einer Weile hatte der Himmel schon einige Flocken verloren, dann war jedoch nichts mehr gekommen. Der nahende Sturm ließ sich nicht hetzen.
Das Zimmer war nur von einer dicken Kerze erleuchtet, die in einem bernsteinfarbenen Glas auf dem Ecktisch stand. Jedes Mal, wenn ein Luftzug die Flamme fand, übergoss das schmelzende Licht die Kalksteinwände mit einem buttergelben Schein, während Wellen aus flüssigen Schatten in die Ecken strömten.
In den meisten Nächten ist Lampenlicht mir zu hell. Wenn ich schreibe, leuchtet nur der Bildschirm, den ich so schwach eingestellt habe, dass graue Buchstaben auf einem marineblauen Untergrund erscheinen.
Da das Fenster nicht von Licht versilbert wurde, sah ich kein Spiegelbild meines Gesichts. Ich hatte einen klaren Blick auf die Nacht jenseits der Scheiben.
Lebt man in einem Kloster, so hat man mehr Möglichkeiten als anderswo, die Welt so zu sehen, wie sie ist, statt durch den Schatten hindurch, den man auf sie wirft. Das gilt selbst, wenn man Gast ist und kein Mönch.
Die Abtei St. Bartholomew lag mitten in der weiten Berglandschaft der Sierra Nevada, auf der kalifornischen Seite der Grenze. Der Wald, der die Hänge bedeckte, war in Dunkelheit gehüllt.
Von meinem Fenster im zweiten Stock aus konnte ich nur einen Teil des breiten Vorhofs und die Asphaltstraße erkennen, die ihn durchschnitt. Vier glockenförmige Lampen auf niedrigen Pfosten warfen einen bleichen, kreisförmigen Schein.
Das Gästehaus ist im nordwestlichen Flügel des Klosters untergebracht. Im Erdgeschoss befinden sich Gemeinschaftsräume, in den beiden oberen Stockwerken die Gästezimmer.
Während ich auf das Unwetter wartete, glitt etwas Weißes, das kein Schnee war, über den Hof aus der Dunkelheit ins Lampenlicht.
Die Abtei besitzt einen Hund, einen etwa fünfzig Kilo schweren Schäferhundmischling, zu dessen Vorfahren möglicherweise ein Labrador gehört. Er ist vollständig weiß und bewegt sich mit der Anmut eines Nebelstreifs. Sein Name ist Boo.
Mein Name ist Odd Thomas. Meine geschiedenen Eltern behaupten, bei der Ausstellung der Geburtsurkunde sei ein Fehler unterlaufen, denn ich hätte eigentlich Todd heißen sollen. Dennoch haben sie mich kein einziges Mal so gerufen.
In meinen einundzwanzig Lebensjahren habe ich nie in Betracht gezogen, meinen Namen in Todd umzuändern. Der bizarre Lauf meines Lebens deutet darauf hin, dass ein entschieden merkwürdiger Name wie Odd besser zu mir passt, egal, ob meine Eltern ihn mir absichtlich gegeben haben oder ob das Schicksal daran schuld ist.
Unter mir blieb Boo mitten auf dem Asphalt stehen und blickte den abschüssigen Fahrweg entlang, der schmaler werdend in der Dunkelheit verschwand.
Berge bestehen nicht vollständig aus Abhängen; gelegentlich
macht die ansteigende Landschaft eine Pause. So steht auch die Abtei auf einer hoch gelegenen Wiese. Sie ist nach Norden ausgerichtet.
Da Boo die Ohren aufgestellt und den Kopf gehoben hatte, witterte er offenbar einen nahenden Besucher. Den Schwanz hatte er gesenkt.
Den Zustand seines Nackenfells konnte ich nicht beurteilen, doch seine angespannte Haltung wies darauf hin, dass es sich sträubte.
Die Lampen entlang des Fahrwegs brennen von der Dämmerung bis zum Morgengrauen. Die Mönche von St. Bart sind nämlich der Ansicht, man müsse nächtliche Besucher mit Licht willkommen heißen, auch wenn nur selten welche kommen.
Eine Weile stand der Hund reglos da, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Rasen rechts vom Fahrweg. Sein Kopf war nun gesenkt, die Ohren lagen eng an.
Zuerst sah ich nicht, was Boo derart beunruhigte. Dann kam eine Gestalt in den Blick, die so flüchtig war wie ein über schwarzes Wasser schwebender Schatten. Sie strich nahe genug an einem der Laternenpfähle vorbei, um kurz erkennbar zu sein.
Selbst bei Tageslicht wäre dies ein Besucher gewesen, den nur der Hund und ich wahrgenommen hätten.
Ich sehe tote Menschen. Es sind die Geister der Verstorbenen, die aus ihrem jeweils ureigenen Grund nicht bereit sind, diese Welt zu verlassen. Manche zieht es zu mir hin, weil sie Gerechtigkeit suchen, zum Beispiel, weil sie ermordet wurden, manche suchen Trost
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