Der Sohn des Verräters - 21
hört!“ „Aber Katherine, das wäre nie der Fall, wenn sie richtig ausgebildet wird. Und wenn du dich partout nicht überprüfen lassen willst, wird dich niemand dazu zwingen. Ich glaube, du hast in Wahrheit mehr Angst vor der Erkenntnis, dass du vielleicht doch gewisse Fähigkeiten hast, als davor … keine zu haben.“ Marguerida wollte den Begriff kopfblind in diesem
Moment lieber nicht gebrauchen.
„Kann sein“, antwortete Katherine widerwillig. „Herm hat
mich darauf hingewiesen, dass meine Porträts oft Elemente
enthalten, von denen ich dachte, sie entsprängen meiner
Fantasie. Es stellt sich aber oft heraus, dass es sich um Dinge
handelt, die den von mir Porträtierten wichtig sind. Daran hatte
ich nie gedacht, und ehrlich gesagt, finde ich die Vorstellung
widerlich. Meine Nana hat mich nicht zu einer Schnüfflerin
erzogen!“ „Sicherlich nicht.“ Marguerida hielt inne und
bedachte vorsichtig ihre nächsten Worte. „Aber könnte es nicht
sein, dass du ein wenig überreagierst, weil du befürchtest,
womöglich aus Versehen deine Modelle … ausspioniert zu
haben? Ich meine, wenn du dich dein ganzes Leben lang für
einen ehrlichen Menschen gehalten hast, und eines Tages
ertappst du dich dabei, wie du in einem Geschäft irgendwelchen
Plunder in die Tasche steckst, dann wärst du sicher auch
entsetzt, oder?“ „Allerdings. Ist dir eigentlich klar, dass du mich
im Augenblick nicht eben beruhigst, Marguerida?“ „Vielleicht
brauchst du auch weniger Beruhigung als vielmehr
Aufrichtigkeit. Sag, weißt du, was Empathie ist?“ „Natürlich –
das ist die Fähigkeit, die Empfindungen anderer zu teilen.“ „Das
ist eine Definition und so weit ganz richtig. Aber hier auf
Darkover zählt sie zu den Gaben der Domäne Ridenow, und sie
beinhaltet viel mehr als die verstandesmäßige Fähigkeit, die
Gefühle anderer Leute nachzuvollziehen.“ „Ich kann dir nicht
folgen.“ „Es ist ein großer Unterschied zwischen Ich weiß, wie
es dir geht und Ich fühle, wie es dir geht, meinst du nicht?“
Katherine machte große Augen. „Ja, aber … Jetzt verstehe ich.
Das ist es also!“ „Was meinst du?“ Kate rieb sich die Wange
und hinterließ Kohlestreifen darauf. „Als ich Herm kennen
lernte, fiel mir als Erstes an ihm auf, dass er mich nicht
ermüdete, wie es viele Leute tun. Er war so erholsam.“ Sie
schüttelte den Kopf. „Das hat sich nach unserer Heirat nicht
geändert. Er stellte keine Ansprüche an meine Gefühle, sondern war einfach nur ein guter Mann. Nach einer Weile erkannte ich, dass er seine Gefühle sehr im Zaum hielt, dass er distanziert und verschlossen war, aber das machte nichts, denn ich liebte ihn. Er war mein sicherer Hafen.“ „Ist dir denn nie in den Sinn gekommen, dass du ihn erwählt haben könntest, weil er so distanziert und verschlossen war? Dass du ein natürliches Einfühlungsvermögen besitzt, was durchaus normal ist, aber sagen wir mal, du hast eine Extraportion davon, und daher ist ein Mann, der seine Gefühle für sich behält, ein wahrer Segen für dich.“ „Wenn du es so sagst – nein. Soll das heißen, ich liebe ihn eigentlich gar nicht?“ „Aber nicht doch! So wie ihr beide euch anschaut, käme niema nd auf die Idee, dass ihr euch nicht anbetet. Aber wir alle suchen uns Partner aus, die zu uns passen, oder versuchen es jedenfalls. Mikhail und ich … na ja, bei unserer ersten Begegnung hatten wir diesen lächerlichen Streit, aber ich glaube, wir haben beide gespürt, dass wir füreinander bestimmt sind. Und wir streiten auch jetzt noch.“ „Wirklich? Herm und ich hatten eigentlich selten eine Auseinandersetzung, bis wir nach Darkover kamen. Sicher, es gab die eine oder andere, und ich bin schon mal wütend geworden, aber größtenteils verlief alles sehr freundlich.“ Marguerida lachte wieder. „Dann hast du großes Glück.“ „Findest du? So habe ich es noch nie gesehen. Du hast mir viel zu denken gegeben, Marguerida, und ich weiß nicht, ob ich dir dafür dankbar bin.“ „Das musst du nicht, Katherine. Aber du hast mir noch immer nicht gesagt, warum du glaubst, die Leute würden dir Märchen erzählen, die dir Angst machen oder dich erstaunen.“ Marguerida wollte möglichst schnell wieder von dem Thema der Ehe zwischen den beiden wegkommen. Sie hatte das unangenehme Gefühl, sich in etwas einzumischen, das sie nichts
anging.
„Das ist wahrscheinlich kulturell bedingt. Auf Renney gibt es
eine schier unglaubliche Fülle an Volksmärchen, und ich
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