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Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Titel: Der Sommer der Vergessenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Grandjean
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Prolog
    Der Dunkle
    Es war ein
21. Dezember. Die Dunkelheit lag über dem Wald wie ein samtener Vorhang.
Lautlos fielen Schneeflocken aus dem schwarzen Nachthimmel. Ein Schwarm Krähen
saß in den Zweigen einer alten Kiefer. Ihre aufgeplusterten Gefieder schützten
sie vor dem eisigen Hauch der Nacht. Die schwarzen Vögel drängten sich
schweigend aneinander. Seit Jahrzehnten verbrachten sie die düsteren Zeiten
zwischen den Tagen im schützenden Geäst der Kiefer. Doch heute Nacht war etwas
anders. Ihre dunklen Augen beobachteten unruhig den Boden am Fuß des Baumes.
Die Krähen waren ängstlich. Die Jäger der Finsternis gingen lautlos ihren
Geschäften nach. Eine Eule schwang sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Nacht
und verschwand. Ein alter Mann schlich mit bedächtigen Schritten am Ufer des
Baches entlang. Obwohl barfuß, schien die Kälte ihn nicht zu stören. Jede
seiner Bewegungen war so lautlos wie die weiche Landung der Schneeflocken auf
dem vom modrigen Laub bedeckten Waldboden. Nur das leise Fließen des Baches
störte die Stille. Langsam bildete sich ein dichter Teppich aus Schnee, verbarg
die Spuren des vergangenen Sommers unter seiner hellen Pracht. Der Alte hielt
inne. Er strich sich das graue Haar aus der Stirn und richtete seinen Blick
hinauf zu den ziehenden Wolken, den Nadelstichen der Sterne im dunklen Dach der
Welt. Seine blauen Augen erstrahlten im Glanz des Mondlichts.
    „Seltsam“,
murmelte er. „Es sind nicht genug Wolken am Himmel für so viel Schnee.“ In der
Ferne vernahm er ein Rauschen. Es klang zart und zaghaft wie das Rauschen der
belaubten Buchen, welches er aus sorgloseren Zeiten kannte. Damals, als der
Wald noch die Welt bedeutete. Ein kalter Wind kam auf. Die Kronen der Bäume schaukelten
träge. Die Krähen saßen starr auf ihren Ästen, wogten schweigend mit dem Wind.
Wo eben noch das leise Plätschern von Wasser zu vernehmen war, welches sich den
Weg durch sein schmales Bett bahnte, kehrte gespenstische Stille ein. Der Bach
floss nicht mehr. Im Westen, wo eine kleine Anhöhe den Blick über das Land
versperrte, bewegte sich etwas, versteckt zwischen dem dichten Gestrüpp der
Haselsträucher. Der Alte duckte sich und starrte zwischen den knorrigen Stämmen
der Bäume die Anhöhe hinauf. Der Wind heulte im Geäst. Eine Wolke schob sich
vor den Mond. Ihr Schatten verdunkelte die Nacht endgültig. Jedoch hinter der Kuppe
der Erhebung war ein blasses Leuchten zu erahnen. Eigenartig. Dort liegt
doch der See. Wer sollte dort jetzt ein Feuer entzünden? Eine Krähe durchbrach
die Stille mit einem Schrei. Über den Hang tasteten sich leuchtende Nebelschwaden
wie dünne Finger. Sie schwebten hinab. Schon umgarnten sie die Sträucher am Fuß
des Hangs. Seltsam, dachte der Alte, der Wind kommt von Osten, der Nebel jedoch
kriecht von Westen heran. Ein dichter Wall aus Nebel, dick und undurchsichtig,
sammelte sich an der höchsten Stelle. Erst noch flach, türmte er sich rasch auf
und floss den Hang hinab wie Honig. Seine ersten Ausläufer erreichten den Alten.
Sie streichelten sanft über seine Füße, schlichen zwischen seine Beine, umwoben
seinen Körper. Der tanzende Nebel verströmte ein zauberhaftes Licht. Es
schmeichelte ihm. Die Welt versank. Der Alte hatte vieles gesehen in seinem
langen Leben. Er sah manches Wunder, manchen Irrsinn und die eine oder andere
Unglaublichkeit. Er kannte gute Zeiten und elendig schlechte. Weit war er
gewandert, seit die Welt sich gewandelt hatte. Doch dergleichen sah er seit
Jahrzehnten nicht. Wie ein Traum kam es ihm vor. Ein weißer Traum aus Mondlicht
und Eis.
    „Ja, das
Mondlicht“, flüsterte er. „Es steigt zu mir hinab. Es besucht mich wieder nach
all den Jahren. Es vergibt mir.“ Er lächelte schlaftrunken. „Mein Name ist
Tweed und dies ist mein Wald“, murmelte er und beantwortete die ungestellte
Frage. Seine Augen waren matt, sein Körper starr. Er nickte, wie in ein Gespräch
vertieft. Eine wundervolle Schwerelosigkeit hielt ihn in ihrem Bann. Nie sollte
sie vergehen. Doch dann regten sich seine Instinkte. Was geschah hier nur? Er
blinzelte die Müdigkeit aus den Augen. Sein Körper straffte sich, und zur
vollen Größe aufgerichtet rief er: „Ich bin Tweed und dies ist mein Wald!“ Die
Worte verhallten. Langsam verblasste das schleierhafte Gefühl. Sein Bewusstsein
dämmerte. Die Nebelfinger zogen sich zurück und vergingen. Auf dem Waldboden
hatte sich ein strahlender See aus Nebel gebildet. Tweed hielt die Nase in

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