Atmen – ein lebendiges Geschehen (Gralsverlag Ratgeber)
Vorwort
Was ist dieses lebendige Geschehen, das wir mit Atmen bezeichnen und das uns ein treuer Begleiter ist von dem Augenblick unserer Geburt an bis zu dem Moment, in dem wir unser irdisches Leben aushauchen?
Seit Jahrmillionen entwickelt sich die Erde atmend. Vom einfachsten bis zum kompliziertesten Organismus vollzieht sich ein ständiger Gasaustauschprozeß zwischen ihm und seiner Umwelt. Es wird der Sauerstoff bereitet, den wir als Menschen zum Leben brauchen. Indem wir diesen aufnehmen und Kohlenstoff abgeben, von dem andere Organismen wiederum leben, sind wir eingebettet in einen großen wechselwirkenden Kreislauf des Gebens und Nehmens.
Manche werden empfinden, daß bei dem Begriff “Atem” noch etwas anderes anklingt, vielleicht weniger greifbar als die wissenschaftlich nachvollziehbaren Prozesse in der Natur.
Ich bin dem Wort in seiner Bedeutung, seinen Wurzeln nachgegangen. Aus dem indoeuropäischen Erbe des Wortes wird erkennbar, daß es um weit mehr geht als den beschriebenen Gasaustausch.
So bedeutet im Altindischen „àtmán” Seele, Hauch, Geist. Im Althochdeutschen finden wir die Wörter „atoneian”, das bedeutet erlösen, befreien, und „wiho ätum” in der Bedeutung: der Heilige Geist! Überrascht war ich, als mein Blick im Lexikon auf den Namen Adam fiel, der ja eine starke Lautverbindung zu dem Wort Atem aufweist. Das Wort aus dem Sanskrit bedeutet: Ich gebe.
Und dieses „Ich gebe”, welches sich im Ausatmen vollzieht, erweist sich, wie Sie später verstehen werden, als Schlüssel für einen gesunden, störungsfreien Atem.
Auch in unserem heutigen Sprachgebrauch verbinden sich mit dem Wort Atem bildhafte Vorstellungen. Was empfinden Sie, wenn Sie hören: jemand hat Atemnot? Ein Vortrag ist zu langatmig? Es herrscht atemlose Stille? Auch das Singen erfordert einen „großen Atem”, wenn es Freude bereitet.
In östlichen Kulturen wie Indien, China, Tibet liegt das Wissen um die Heilkraft des Atems tief verwurzelt in den althergebrachten Erfahrungen des Heilwesens und kam bzw. kommt noch heute der ganzheitlichen Entwicklung vieler Menschen zugute.
Manche Indianerstämme und Ureinwohner in Hochgebirgslagen, zum Beispiel die Hunsa im Himalaja, haben sich die Gesetze des Atems in einer Weise zu eigen gemacht, die sie in die Lage versetzt, für uns unvorstellbare körperliche Leistungen in sauerstoffarmer Luft zu vollbringen.
In unserer heutigen, westlichen Zivilisation werden wir in erster Linie auf den Atem aufmerksam, wenn er uns stört und nicht mehr so funktioniert, wie wir es wünschen. Die so genannten Atemstörungen nehmen in erschreckendem Maße zu, zurückzuführen auf unsere heutige unnatürliche Lebensweise. Verschmutzung der Luft, falsche Ernährung, Übertechnisierung, mangelnde Bewegung und nicht zuletzt die Erziehung zu äußerer wie innerer Bequemlichkeit (man möchte oft meinen, dies sei ein Lebensziel) verhindern eine freie, freudeschaffende Atembewegung. Es zeigt sich darin unsere Einstellung zum Leben überhaupt.
Wenn ich nun im folgenden versuche, Ihnen das richtige Atmen näherzubringen, so geht es mir in erster Linie darum, die natürlichen Gesetzmäßigkeiten des Atems aufzuzeigen. Damit meine ich, daß ich dem Atemgeschehen keine konstruierte Atemtechnik aufzwingen darf, in der der Atem nach bestimmten Vorstellungen geführt wird, etwa durch Zählen, Anhalten, Einsaugen, künstliches Verlängern oder Verkürzen usw.; vielmehr kann es nur darum gehen, den natürlichen, ursprünglichen Atem kennen zu lernen durch eigenes Erleben, ihn zuzulassen und ihm Möglichkeiten zu geben, sich zu entfalten.
Dieses vollzieht sich nicht durch gewolltes, verstandesmäßiges Einwirken, sondern durch Hingabe und ein bewußtes Sicheinfügen. Jegliches Mystifizieren liegt mir dabei vollkommen fern, es würde nur – wie entsprechende Erfahrungen zeigen – verschleiern und verwirren. Natürliches Geschehen aber zeichnet sich durch Einfachheit und Klarheit aus, frei von spektakulären Sensationen und konstruierten Phantasien. Das Echte, Wahre vermögen wir nur in der Einfachheit zu erkennen – es bürgt gleichsam für sie:
„Seid einfach in dem Denken und dem Tun; denn in der Einfachheit liegt Größe und auch Stärke! Ihr gehet dadurch nicht zurück, sondern voran und füget einen festen Bau zu einem neuen Sein, in dem sich jeder Mensch zurechtfindet, weil er nicht mehr verworren und verwickelt ist, sondern in jeder Weise übersehbar, hell und klar, mit einem Wort:
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