Der Sommer des Kometen
gekommen war, und atmete tief den Honigduft der Linden ein. Trotzdem glaubte er noch immer die fauligen Gerüche aus den Fleeten und engen Gassen und Höfen Hamburgs zu riechen. Wahrscheinlich war es nur der ranzige Gestank, der von Roosens Tranbrennereien am nahen Flussufer herüberzog.
Die alte Hafenstadt an der Elbe, keine halbe Stunde zu Fuß durchs freie Feld entfernt, sah schön aus. Die spitzen roten Dächer, eines am anderen ohne Lücke, und die hohen Türme der großen Kirchen hinter den von hundertjährigen Ulmen gekrönten Wällen zeigten Reichtum, aber auch die Enge, in der sich die Menschen wie in einem riesigen Ameisenhaufen zwischen den Befestigungen drängten. Natürlich war das Wetter schuld daran, dass in den armen Vierteln um St. Jakobi und St. Michaelis wieder das Fieber Einzug gehalten hatte. Der Tod machte gierig Beute. Vielleicht würden die Senatoren diesmal begreifen, dass das Fieber nicht vom Himmel fiel und einzig durch Gottes Fügung die Viertel und Häuser der Reichen verschonte, sondern aus dem ganz irdischen Dreck kroch, und dass dringend etwas geschehen musste.
Er stand auf, streckte sich und holte die Flasche aus der Satteltasche, die Gräfin Schimmelmann ihm aufgedrängt hatte, als er das Palais nahe der Michaeliskirche verließ. Das Wasser, nicht aus den modrigen Fleeten, sondern frisch und klar aus den Harvestehuder Quellen und immer noch kühl vom Eiskeller unter der herrschaftlichen Küche, war das reinste Lebenselixier. Er nahm einen großen Schluck, goss den Rest in seinen Dreispitz und hielt ihn dem Apfelschimmel unters Maul.
«Aber wenn du weiter so herumtänzelst, musst du es sofort wieder ausspucken, du launisches Vieh.» Er klopfte den schmutzigen Hals des Pferdes, blinzelte durch das müde Laub der Bäume zum bleiernen Himmel hinauf und seufzte. Alle waren in diesen Wochen ein wenig verrückt, warum nicht auch die Tiere? Der Mai des Jahres 1766 war ein wahrer Wonnemonat gewesen, doch der Juni hatte sich vom ersten Tag an als übler Gewittermonat gezeigt. Die Sonne zog Tag für Tag träge über den stets verhangenen Himmel, selbst in den Nächten blieb die Luft drückend schwül, in den Hamburger Fleeten stand das Wasser, und der faulige Geruch lag wie eine Glocke über der Stadt. Nur kurz aufbrausende, unberechenbare Gewitterstürme unterbrachen hin und wieder die seit zwei Wochen herrschende Flaute, ohne die dringend nötige Erfrischung mitzubringen. Kein Wunder, dass die Menschen durchdrehten. Viele Schiffe waren überfällig, weil der Wind schlief. Die meisten lagen vor Cuxhaven fest, einige hatten es bis Glückstadt geschafft, und die Kaufleute überlegten, Wagen elbabwärts zu schicken, um wenigstens die kostbareren Teile ihrer Frachten nach Hamburg zu holen. Es hieß, in einigen Raffinerien würde schon der Rohzucker knapp. Die Nerven der Leute lagen bloß, in den Schenken am Hafen und in der Neustadt saßen Fäuste und Messer locker. Und der Pesthof hinter den Reeperbahnen – seit die letzte Seuche vor Jahrzehnten Europa verlassen hatte, das Hamburger Hospital für Sieche, Blöde und Wahnsinnige – war überfüllter denn je.
Wieder einmal war Struensee froh, dass das Schicksal ihn nicht nach Hamburg, sondern nach Altona gesandt hatte. Natürlich besuchte er gerne das Theater und die Konzerte in der größeren Stadt, er genoss die Sonntagnachmittage bei seinem Freund Reimarus, mit dem sich so herrlich streiten ließ, aber in Altona lebte es sich freier. Zwar war die Stadt sechsmal kleiner, doch es gab keine Mauern, keine bedrängende Enge hinter streng bewachten Toren, die das Gemüt so reizte und das Blut so ungeduldig machte.
Der Blick des jungen Mannes wanderte nach Süden über die Elbe, die bleiern zwischen ihren grünen Inseln schwappte. Auf einer der größten, auf Finkenwerder, streckte der kurze dicke Turm der neuen Kirche nicht viel mehr als seine Wetterfahne übers Ried, davor mühten sich ein paar Ewer mit schlaffen Segeln und knarzenden Rudern flussaufwärts zum Hamburger Hafen.
Er blickte weiter nach Westen nach Altona. Nur zwei Türme, vom Rathaus und von St. Trinitatis, überragten die Ziegeldächer. All die anderen Kirchen der Mennoniten, Reformierten, Katholischen, Juden und wer sonst noch in der freizügigeren dänischen Stadt Zuflucht gefunden hatte, duckten sich unauffällig zwischen den Mauern.
Struensee zog die weiten Ärmel seines weißen Hemdes, die er wegen der Hitze aufgekrempelt hatte, wieder herunter und griff nach dem Rock
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