Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 2 - Die Goetter von Amyrantha
PROLOG
Dreitausend Jahre zuvor. Kurz vor dem vierten Weltenende .. . Das Schwierigste beim Foltern, hatte Balen festgestellt, war die mentale Anstrengung, die Schmerzen des Opfers nicht mitzufühlen. Man musste einen Abstand schaffen. Löse dich von dem Teil von dir, der menschlich ist, und sieh zu, dass er dir fernbleibt. Am wichtigsten ist, sich stets daran zu erinnern, dass die Kreatur, die du folterst, kein Mensch ist.
Letzteres war nicht leicht. Lyna sah aus wie ein Mensch. Mit ihren langen schwarzen Haaren und den gefühlvollen dunklen Augen glich sie eher Balens verheirateter Tochter als einem Monster.
Balen schloss die Augen und versuchte ihre Schreie auszublenden. Ich tue das, weil ich muss, versicherte er sich und stieß die abgetrennte Hand in die glühenden Kohlen der Esse. Es muss einen Weggeben, diese Wesen zu töten.
Die amputierte Hand bräunte sich und begann zu schmoren. Das tropfende Blut zischte und spritzte. Es roch dem gestrigen Braten entsetzlich ähnlich.
Es widerspricht jeder Logik, zu denken, dass etwas nicht sterben kann.
Logik hin oder her, sie hatten beim Töten ihrer unsterblichen Gefangenen bisher kein Glück gehabt.
Vielleicht hatten sie ihr Glück schon damit verbraucht, sie überhaupt aufzuspüren. Allerdings stieg die Flut, und mit ihr wuchs die Macht der Unsterblichen. Sie kümmerten sich immer nachlässiger darum, ihre Identität zu verbergen. Balen und seine Landsleute hätten keine Chance gehabt, einen echten Gezeitenfürsten gefangen zu nehmen. Lyna war glücklicherweise eine der niederen Unsterblichen. Sie besaß nicht die zerstörerische Macht von Cayal oder Pellys oder Tryan. Sie stand zwar mit dem Strom der Gezeiten in Verbindung wie alle Unsterblichen, aber sie konnte nicht viel damit anrichten.
Das war großes Glück. Wenn sie eine Gezeitenfürstin wäre, oder wenn die kosmische Flut schon ihren Höchststand erreicht hätte ... nun, nach allem, was sie ihr in den vergangenen Wochen angetan hatten - wenn sie die Macht hätte, Vergeltung zu üben, wären sie längst alle tot.
Und mit ihnen vermutlich jeder im Umkreis von hundert Meilen.
Balen wappnete sich und sah sie an. Nackt und schmutzig krümmte sich Lyna zusammengerollt auf dem Boden ihres Verschlages und wimmerte vom Schmerz der Amputation. Ungeachtet der Verbrennungen, der Stichwunden und sogar der eben abgeschlagenen Hand — er hatte prüfen wollen, ob sie verbluten würde — war der Rest ihres Körpers gänzlich bar aller Spuren. Alles, was er ihr angetan hatte, war geheilt, und je fürchterlicher die Verletzung, desto schneller schien sie sich davon zu erholen.
Gezeiten, was mach ich bloß?
Vielleicht waren diese widernatürlichen Geschöpfe wirklich unsterblich. Vielleicht gab es kein Ende für sie. Niemals. Vielleicht würden sie in einer unvorstellbaren Zeit in der Zukunft, wenn das Universum erkaltete, immer noch da sein, einsam und lebendig, mit nichts als ihrer endlosen Existenz.
Das ist unmöglich, versicherte Balen sich selbst. Außerdem, bis wir das Ende der Zeit nicht erreicht haben, woher können wir wissen, dass sie so lange überleben?
»Hat sie sich schon wieder erholt?«
Balen blickte auf und sah seinen Sohn im Eingang zur Schmiede stehen. Der Junge war auf morbide Weise fasziniert von dem, was sein Vater tat. Vielleicht ein wenig zu fasziniert. Er befürchtete, der junge Mann sah in dem Käfig nicht das Monster, das sich die eben von seinem Vater abgehackte Hand nachwachsen ließ, sondern lediglich eine gefolterte junge Frau. Mit siebzehn Jahren war Minark zu jung, um die Gefahr, die Unsterblichkeit für die Sterblichen seiner Welt bedeutete, richtig einzuschätzen.
»Es scheint so.«
»Kann ich sie sehen?«
Balen runzelte die Stirn. »Warum?«
»Ich ... ich kann einfach nicht glauben, dass sie nicht verletzt ist.«
Balen blickte über die Schulter auf die kläglich wimmernde junge Frau. Er wusste nicht, wie alt sie wirklich war - fünftausend Jahre ... oder zehntausend? Sie sah nicht älter aus als fünfundzwanzig. Jedenfalls jung genug, dass ein leicht zu beeindruckender Jugendlicher sie anziehend finden musste. Gerade hatte die Blutung aufgehört, und neues Gewebe begann als Knochen und Fleisch Formen auszubilden. »Sie ist verwundbar, das ist sicher, Minark, und sie fühlt Schmerzen. Aber sie heilt immer wieder zusammen.«
»Darf ich ...?«
»Nein«, sagte er. Minark nahm viel zu viel Anteil an den Leiden der gefolterten Unsterblichen. Das Letzte, was er brauchte,
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