Der Spiegel von Feuer und Eis
Teil I
Firnwolfjagd
Mit angehaltenem Atem drückte Cassim das Ohr fester gegen die Tür.
»Auch wenn ich nur ihr Oheim bin: Das Mädchen ist mir so lieb, als wäre es mein eigen Fleisch und Blut.« Die wie immer leicht raue Stimme Karnans klang deutlich durch das rissige Holz. Wenn du mein Oheim bist, bin ich ein Schneefuchs mit rotem Fell! Ich weiß nicht, wen du für diese Urkunden bestochen hast und wie viel es dich gekostet hat, aber das Letzte, was du bist, ist Mamas verschollener Vetter. Alles, was du wolltest, war ihre Werkstatt und Papas Laden – und mich als Dreingabe! – - Feuer und Erde, was hat er nun schon wieder vor?
Was der Kunde antwortete, konnte sie nicht verstehen, doch die Entgegnung ihres Oheims war abermals mühelos zu hören. »Ich bitte Euch! Ihr sprecht von dem einzigen Kind meiner geliebten Base. Bedenkt ihr Geschick … Bei einem solchen Betrag müsste ich mir Sorgen machen, ob Ihr ihre Gabe überhaupt zu würdigen wisst.«
Betrag? Plötzlich war Cassim kalt.
Diesmal begleitete das unverkennbare Klimpern von Münzen das Murmeln des Kunden.
»Nun, bei dieser Summe …« Sie schloss die Augen und glaubte doch zu sehen, wie Karnan gierig nach dem Geld langte – »… kann ich sicher sein, dass Ihr dem Mädchen ein gutes Zuhause bieten werdet.« Nicht genug, dass er mir das Letzte genommen hat, was mir von Mama geblieben war – jetzt verkauft er mich? Sie schrak zusammen, als sich der Riegel vor ihrer Hand bewegte. »Ich hole sie aus der Werkstatt, Herr. Ihr könnt sie
gleich mit Euch nehmen. Viel besitzt das arme Ding ja nicht.« Karnans Worte rissen sie endgültig aus ihrem Entsetzen. Ohne nachzudenken, stieß sie den Riegel zurück und blockierte ihn mit dem eisernen Zapfen. Auf der anderen Seite der Tür erklang ein überraschter Ruf, der schnell in das inzwischen wohl bekannte ärgerliche Zetern überging. Cassim wich zurück. Was sollte sie tun? Draußen war nichts als Schnee und Kälte. Es gab niemanden, der sie bei sich aufnehmen würde. Wie oft hatte sie schon fortgehen wollen und war geblieben, weil sie gehofft hatte, irgendwie das alte Amulett ihrer Mutter zurückzubekommen, das Karnan ihr fortgenommen hatte. Bisher vergebens. Das Holz erzitterte unter wütenden Hieben.
Sie ballte die Fäuste. Alles war besser, als wie ein Ding verschachert zu werden! Ihre Augen glitten über den so vertrauten kleinen Raum. Hier hatte sie zu Mamas Füßen gespielt, während Papa die kostbaren Schmuckstücke nebenan verkauft hatte, um deretwillen Kunden von weither gekommen waren. Hier hatte Mama sie die Kunst des Edelsteinschneidens gelehrt. Hier hatte sie zum ersten Mal das Wispern vernommen. Mit einer trotzigen Geste wischte sie die Nässe weg, die plötzlich auf ihren Wangen war. Sie hatte keine andere Wahl: Sie musste fort! Jetzt! Und wenn sie sich nicht beeilte, würde Karnan, diese Schlammratte, sich vielleicht an das Fenster erinnern. Je mehr Vorsprung sie hatte, ehe er ihr die Büttel hinterherjagte, umso besser.
Wie um ihre Befürchtung zu bestätigen, war es auf der anderen Seite der Tür still geworden. Rasch kletterte sie auf die Werkbank und stieß das Fenster auf. Sofort wehte ihr von draußen Schnee entgegen. Eiszapfen hingen vom Dachsims herab, versperrten ihr im Mondlicht glitzernd den Weg. Cassim griff sich einen Edelsteinhammer von der Bank und schlug sie fort. Entschlossen schob sie sich aus der schmalen Öffnung, sprang zu Boden und versank dabei sofort bis über die Knöchel im Schnee. Die Kälte biss durch das Leder ihrer Halbstiefel, kroch
durch die Wolle ihres Kleides. Sie zog die ärmellose Fellweste fester über der Brust zusammen und sah sich hastig um. Die enge Gasse war menschenleer. Außer dem goldenen Glanz, der hinter ihr aus dem Fenster fiel, gab es hier kein Licht. Im Mondschein glitzerte der Schnee, der den Boden vollkommen bedeckte. Das Eis, das die Hauswände überzog, blitzte. Ihr Atem wehte als fahler Dunst von ihren Lippen. Die Häuser standen Mauer an Mauer. Karnan würde bis zum großen Platz laufen müssen, ehe er eine Nebenstraße erreichte, die zu dieser Gasse führte. Sie schob die Hände unter die Achseln und sah zum sternenklaren Himmel hinauf. Die Nacht würde noch kälter werden. Aber vielleicht zeigte die Eiskönigin ein einziges Mal Erbarmen und sie fand einen Unterschlupf. Um Karnan abzuhängen, musste sie allerdings auf eine der größeren Straßen gelangen. In den kleinen Nebengassen, die zu dieser späten Stunde von aller Welt
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