Jenseits von Feuerland: Roman
Prolog
MAGELLANSTRASSE, DEZEMBER 1892
S prühender Nebel und Dunstschwaden erwarteten sie, nachdem sie den Atlantik verlassen hatten und in die Magellanstraße eingefahren waren. Zunächst glitt das Schiff lautlos auf dem dunklen Wasser, doch plötzlich wurde das Grau vor ihren Augen so dicht, dass der Kapitän befahl, den Anker werfen zu lassen. Erst Stunden später, der Abend nahte schon, erwuchsen aus einem Lufthauch heftige Windböen. Der Nebel riss wie ein Schleier, und das Meer war nicht länger abgründig schwarz, sondern leuchtete in vielen Farben: Es funkelte grün und türkis, wo Sonnenstrahlen darauf fielen, dunkelviolett, wo die schroffen Küsten Schatten warfen.
Das Schiff nahm wieder an Fahrt auf, kam nun an steil aufragenden Basaltfelswänden vorbei, an zerklüfteten Klippen und an öden Heiden, die oft von den ebenso wilden wie kalten Südwinden der Antarktis gepeitscht wurden. Keine fruchtbaren Wiesen bedeckten sie, sondern dürre Algen, über denen Seevögel kreisten – Albatrosse mit schwanenweißem Gesicht und mächtigen Flügeln, Regentaucher, die der Algen bald überdrüssig waren und hungrig nach Fischen auf das Wasser herabschossen, Meerlerchen mit ihrem gebogenen Schnabel und Raubmöwen, deren Kreischen zu ohrenbetäubendem Lärm anwuchs. Auf die Heidelandschaft folgten sanfte Hügel mit Eichenwäldern und Brombeerhecken und später Wiesen, die von graubraunen, kniehohen Grasbüscheln, weißen Flecken – Schafen oder Staubflächen – und dann und wann von den winzigen Farbtupfern violetter und gelber Blumen übersät waren.
In der Ferne ragten die ersten Berggipfel auf, und Emilia, die an der Reling stand, starrte fasziniert darauf. Bei Tageslicht von kaltem Blau erglühten sie nun im Abendrot in sanftem Rosa. Bei ihrem Anblick musste Emilia unwillkürlich an die Worte des Walfängers Pedro denken, die er einst, als sie vor vielen Jahren zum ersten Mal die Magellanstraße durchkreuzt hatte, an sie gerichtet hatte. Auf der einen Seite, so hatte er ihr erklärt, wäre das chilenische Festland, auf der anderen Seite wären die vielen kleinen, bergigen Inseln von Feuerland.
»Und was kommt jenseits von Feuerland?«, hatte sie gefragt, und seine Antwort hatte gelautet: »Nichts … nur ewiges Eis. Jenseits von Feuerland liegt das Ende der Welt.«
Die Vorstellung von einer menschenleeren Ödnis, von einer erschreckenden, weil nahezu grenzenlosen Weite hatte ihr damals keine Angst gemacht. Sie hatte schrecklichen Kummer gelitten und war sich sicher: Auf jedem Fleckchen Erde – ob besiedelt oder unbewohnt, ob farbenprächtig oder grau, ob voller Sonnenschein oder kaltem Eis – würde sie von diesem Kummer verfolgt sein. Nun aber, da dieser Kummer längst vergangen war, nur Narben zurückgeblieben waren, die nicht mehr schmerzten, erschauerte sie voller Ehrfurcht und kam sich im Angesicht der gewaltigen Natur winzig klein vor.
Plötzlich nahm sie einen Schatten hinter sich wahr. Eine Gestalt trat zu ihr und umschlang ihre Schultern.
»Woran denkst du?«, fragte der Mann.
»Dass jenseits von Feuerland nichts mehr kommt …«, murmelte sie nachdenklich.
Immer wieder hatte sie es gehört: Feuerland war noch karger, einsamer und unerforschter als die patagonische Steppe, ein Land der ewigen Stille, die nur manchmal vom Seufzen der Gletscher unterbrochen wurde.
Der Mann streichelte ihr Gesicht, und sie presste sich enger an ihn, während das Sonnenlicht verblasste und der Wind zunehmend schärfer wehte.
Das Schiff glitt an urwüchsigen Wäldern vorbei, und zum Geschrei der Möwen gesellte sich das Rufen der Chucaos, scheue Vögel, deren Echo wie Gelächter klang. Dann wieder schlug Steppe breite Schneisen in den Urwald. Die Schafe, die sich wegen der nahenden Nacht zusammendrängten, sahen aus wie Wolken.
»Es wird kühl«, murmelte er, »lass uns hineingehen.«
Anstatt ihm zu folgen, machte Emilia sich von ihm los und umklammerte erneut die Reling. Ihr Blick suchte das Ende des Horizonts, doch Himmel und Meer trafen sich nicht mit einem klaren Schnitt, sondern wurden durch ein weißes Band vereint, vielleicht weitere Berge, vielleicht nur Wolken.
»Ich muss mit dir reden«, murmelte sie. »Es … es geht um das Geheimnis, das ich dir anvertraut habe. Mein Geheimnis.«
Im Wind flatterte sein Mantel so heftig wie ihr Kleid. »Nun ist es kein Geheimnis mehr«, stellte er fest.
»Ja«, sagte sie leise. »Ja, nun weißt du es … Nun weißt du alles. Doch ich frage mich …
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