Der Spinnenmann
Doch stattdessen zog ich meine Geldbörse hervor. »Ich muss ein Ferngespräch nach Oslo anmelden. Könnte ich vielleicht Ihr Telefon benutzen?«
Sie wirkte etwas zögerlich. Ich reichte ihr einen Zehner.
»Ach, bitte! Könnten Sie vielleicht Ihre Geldkassette mitnehmen und sich solange hier draußen an einen freien Schreibtisch setzen? Ich wäre Ihnen ewig dankbar!«
Glücklicherweise ließ sie sich überreden. Ich schloss die Tür des kleinen Büros und meldete ein Gespräch mit Kiss an. Bei der Vermittlung gab es offenbar viel zu tun. Es dauerte fast eine Viertelstunde, bevor sie zurückriefen.
Kiss war am Apparat. Ich kam gleich zur Sache. »Hier ist Erik. Du musst mir einen Gefallen tun.«
»Ist es dringend?«
»Darauf kannst du wetten. Wenn du mir nicht hilfst, bin ich wohl am Ende.«
Offenbar schien sie plötzlich den Ernst der Lage zu begreifen. »Was soll ich denn machen?«, fragte sie ängstlich.
»Du musst dich sofort ins Auto setzen und nach Skien kommen. Und bring eine Landkarte mit; wir fahren weiter nach Kristiansand …«
»Ja, gut«, erwiderte sie, ohne zu zögern.
Nicht eine Frage, worum es ging. Vor lauter Dankbarkeit und Bewunderung versagte mir fast die Stimme. Nicht einmal Thomas Beresford hätte sich in der Stunde der Not besser auf seine Tuppence verlassen können!
»Tüchtiges Mädchen«, sagte ich. »Wie lange wirst du wohl nach Skien brauchen?«
»Es wird eine Weile dauern. Ich schätze, ich bin irgendwann im Laufe des Abends da.«
»Gut. Wenn du nach Skien kommst, parkst du vor dem Rathaus und bleibst im Wagen sitzen.«
»Wie lange?«
»Bis ich komme. Abgemacht?«
»Abgemacht. Pass auf dich auf, Erik!«
Ich versprach es ihr und legte auf. Danach bestellte ich eine Droschke aus Skien und bat darum, am Hafen von Menstad abgeholt zu werden.
Es war schon nach zehn, als der schwarze Chrysler vor dem Skiener Rathaus auftauchte. Zu diesem Zeitpunkt war ich alleine auf dem Platz. Etwas früher am Abend hatten drei oder vier Weihnachtsbaumverkäufer dem Regen getrotzt, aber als die Kunden ausblieben, hatte einer nach dem anderen aufgegeben und die Bäume auf Lastwagen abtransportiert. Die Bewohner von Skien hatten anscheinend noch nicht gemerkt, dass es nur noch sechs Tage bis Heiligabend waren. Es gab keinen Schnee, nicht einmal Minustemperaturen, nur tagein, tagaus dieses ewige Regenwetter.
Auf der anderen Seite des Platzes hatte beim Narvesen-Kiosk, einem altmodischen Häuschen mit Schirmdach und spitz zulaufender Uhrenlaterne, eine gewisse Betriebsamkeit geherrscht. Doch nach einer Weile hatte der alte Zeitungs- und Heftverkäufer wohl eingesehen, dass kein weiterer Kunde dem Regen trotzen würde. Punkt sechs Uhr war das Licht in dem alten, grün angestrichenen Pavillon gelöscht worden.
Danach war ich mit zwei Droschkenchauffeuren allein, die in der Wärmestube draußen vor Hoyers Hotel Zuflucht gesucht hatten. Doch auch sie hatten bereits Feierabend gemacht, als Kiss angefahren kam.
Nachdem ich stundenlang an der Ecke vor dem Fischladen gestanden hatte und ganz starr vor Kälte war, wäre ich am liebsten sofort zum Wagen gelaufen. Doch irgendetwas sagte mir, dass ich vorsichtig sein musste.
Erst als der Chrysler zehn Minuten dagestanden hatte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, nahm ich meinen Mut zusammen. Ich schlug den Kragen des langen Mantels hoch und lief zum Wagen. Bevor Kiss auch nur reagieren konnte, hatte ich mich auf den Beifahrersitz geworfen und die Tür zugeschlagen.
»Fahr!«, sagte ich.
Sie startete den Wagen, fand sofort den Weg aus der Stadt und fuhr mit hoher Geschwindigkeit über die Brücken in Richtung Papierfabrik.
»Du kennst den Weg?«, fragte ich.
»So ungefähr.«
Sie warf mir einen Plan in den Schoß. »Du behältst die Karte im Auge, damit wir uns nicht verfahren.«
Ich fing an zu blättern. Kiss warf mir einen raschen Blick zu, bevor sie sich wieder auf die Straße konzentrierte.
»Was hast du denn da für einen Mantel an?«, fragte sie belustigt.
»Das ist nicht meiner. Er gehört Sven Elvestad.«
»Meinst du den Journalisten Sven Elvestad? Kennst du ihn?«
»Er wurde heute in Hoyers Hotel umgebracht.«
»Was sagst du da?«
Ich erzählte Kiss alles. Von Bondi und seiner Organisation, vom Kontrakt und von Heydrich. Und wieder einmal war ich von ihrer Haltung beeindruckt. Ich kenne eine Menge Mädchen, die angesichts geheimer Organisationen, ausländischer Agenten und abhanden gekommener Dokumente weiche Knie bekommen hätten.
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