Der Spinnenmann
Dunkelheit hielt auch dem matten Glanz der Kronleuchter stand, die weißen Tischdecken ließen mich an Marmorsarkophage denken. Die Szene draußen vor dem Fenster war ebenso trist. Skiens Rathausplatz war nach wochenlangem Regen von Schlammpfützen übersät. Über den Fabriken auf der anderen Seite des Hafenbeckens konnte ich die Sonne erahnen, die wie eine schmutzigweiße, nebelhafte Scheibe am wolkenverhangenen Himmel stand.
Das Wetter schien Elvestads Stimmung nicht zu trüben. Die Reise hatte offenbar seine Abenteuerlust geweckt, und nachdem der Wein mehr und mehr Wirkung zeigte, präsentierte er mir eine fantastische Theorie nach der anderen.
»Wenn jemand Unbekannter mit einem Brief zu dir kommt«, sagte er, »in dem ich dich zum Beispiel bitte, mich an der Kirche zu treffen … Dann kannst du mit Sicherheit davon ausgehen, dass ich ihn unter Zwang geschrieben habe.«
»Wirklich?«
»Ja, denn aus welchem Grund sollte ich dich an der Kirche treffen wollen? Der Brief wäre natürlich eine Falle.«
»Wenn wir zusammenhalten, dürften wir eine solche Situation wohl vermeiden können.«
»Natürlich, natürlich. Aber wir müssen auf alles vorbereitet sein. Ich halte Reinhard Heydrich nämlich für weitaus intelligenter als mich. Er ist der Napoleon unter den Verbrechern, wenn du verstehst, was ich meine.«
Elvestad wand sich auf seinem Stuhl und warf einen schnellen Blick in die Hotelhalle. »Wie sah denn die Toilette aus?«
Ich war dort gewesen, bevor wir uns in den Speisesaal gesetzt hatten. »Ein modernes Wasserklosett«, erwiderte ich. »Den Schlüssel bekommen Sie an der Rezeption.«
Während ich allein zurückblieb, ließ ich mir die Begebenheiten der letzten Tage durch den Kopf gehen. Ich kam zu der niederschmetternden Erkenntnis, dass Elvestad mich sehr wahrscheinlich auf den Holzweg geführt hatte. Mir war nicht aufgefallen, dass Heydrich uns verfolgte; diese Geschichte war offenbar ein Produkt der allzu lebhaften Fantasie Stein Rivertons. Ich begann sogar daran zu zweifeln, dass Bondi das Schiff Bosphorus gemeint hatte. Was wäre, wenn wir mit dem Kontrakt bis hinunter an die Bosporus-Meerenge reisen müssten? Ich beschloss, sofort eine Droschke nach Menstad zu nehmen, um die Frage zu klären.
Doch die Zeit verging, ohne dass Elvestad von der Toilette zurückkehrte.
Schließlich bekam ich es mit der Angst zu tun und lief zur Rezeption. Dort saß Herr Steiner, der Hotelbesitzer, und ging Rechnungen durch.
»Haben Sie Herrn Elvestad gesehen?«, fragte ich.
Steiner überlegte. »Er war vor einer Weile hier und hat mich um den Schlüssel für den Abtritt gebeten. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
Mir wurde kalt vor Schreck.
»Sagen Sie bitte, Herr Steiner, hat jemand das Hotel betreten, nachdem Elvestad zur Toilette gegangen ist?« Er sah mich bedauernd an.
»Das weiß ich nicht. Ich war ein paar Minuten im Kaminzimmer, um das Frühstück abzuräumen.« Er deutete mit dem Kopf auf einen Raum zur Linken des Vestibüls. »Auf dem Weg zurück zur Rezeption sah ich einen großen blonden Herrn das Hotel verlassen. Ich glaubte, dass er es leid war, länger zu warten, und rief ihm nach. Ich bin sicher, dass er mich gehört hat, aber er ist einfach weitergelaufen.«
Ich drehte mich auf dem Absatz um und ging durch den Korridor in Richtung Toilette. Plötzlich entdeckte ich einen glänzenden Gegenstand auf dem roten Teppich. Ich ging in die Hocke und hob ihn auf: Es war der Schlüssel zum Abtritt.
Ich hatte nicht mehr den geringsten Zweifel, dass etwas Schreckliches passiert war. An der Toilette angelangt, hämmerte ich gegen die Tür. Keine Reaktion. Ich beugte mich hinunter und blickte durchs Schlüsselloch.
Ein grotesker Anblick bot sich mir. Elvestad saß voll angezogen auf dem Klosett und hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Seine Augen blickten ausdruckslos an die Decke, die Brille saß schief, das Gebiss war ihm teilweise aus dem Mund geglitten. Es schien, als schnitte der Tote mir eine Fratze.
Die ganze Zeit hatte er also recht gehabt.
Ich schloss die Tür auf.
Das Futter von Elvestads Jacke war aufgerissen, alle Taschen waren nach außen gekehrt. Ich stopfte die Taschen ordentlich zurück und versuchte die Schäden zu verbergen, so gut es ging. Mit äußerster Anstrengung gelang es mir schließlich, den hundertdreißig Kilo schweren Leichnam auf die Beine zu stemmen. Er hing schlaff über meiner Schulter, während ich die Beinkleider und Unterhosen auf die Knöchel herunterzog.
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