Juwel meines Herzens
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Kapitel eins
Charles Town, South Carolina, 1775
W ie war es nur möglich, dass all ihre Träume ein solches Ende fanden?
Jewel Sanderson sah sich in der vollen Taverne um, in der die Gäste gerade ihr Mittagessen zu sich nahmen. An einem kleinen Tisch neben der Wand saß ihr zukünftiger Ehemann und stocherte in seinem Eintopf herum. Schnell wandte sie den Blick ab, um dem Unvermeidlichen nicht ins Auge sehen zu müssen. Ein Tablett mit leeren Krügen auf ihrer Hüfte balancierend durchquerte sie den überfüllten Raum, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Latimer Payne zu bringen.
Auf der langen Theke stellte sie das Tablett hin, ohne sich um die Bierpfützen zu kümmern, die sich stets auf der Ablagefläche ansammelten. Die Ehe war ihr einziger Ausweg und Latimer Payne ihr einziger Kandidat. Fünf Jahre lang hatte Jewel kein Wort von ihrem Vater gehört, und so musste sie sich an den Gedanken gewöhnen, dass er wohl nicht mehr zurückkehren würde. Die Erinnerungen, an die sie sich klammerte – eine Schlacht im Mondschein, eine Piratenschatzkarte, das Bild eines glorreichen, säbelschwingenden Vaters mit den gleichen grünen Augen wie sie –, waren zu einem durchsichtigen Traum einer einsamen, jungen Frau verkümmert. Sie war kein kleines Mädchen mehr und musste sich den Tatsachen stellen.
Gäbe es nicht diese verfluchte Schatzkarte, die in ein Seidentuch gewickelt unter ihrer Matratze versteckt lag, wäre ihr vielleicht schon früher klargeworden, dass das Versprechen ihres Vaters, zu ihr zurückzukehren, genauso fadenscheinig gewesen war, wie das, welches er ihrer Mutter gegeben hatte: für ihr Wohlergehen und das der noch ungeborenen Jewel zu sorgen, als er sie vor so vielen Jahren in Charles Town verlassen hatte. Damals hatte er sich keinen Deut um seinen Schwur geschert, und es gab wenig Grund zu der Annahme, dass er sich geändert hatte.
Sie warf einen flüchtigen Blick zu Latimer Paynes Tisch und beobachtete, wie sich ihre Mutter ihm gegenüber niederließ. Entschlossen stopfte Jewel den nassen Putzlappen in die Tasche ihrer Schürze, obwohl sie wusste, dass die Feuchtigkeit bis zu ihrem besten Kleid durchdringen würde. Sie musste ihre Mutter unbedingt davon abhalten, sie diesem Mann noch vor Sonnenuntergang auszuliefern.
Als sie am Tisch stand, zwang sie sich zu einem Lächeln. »Soll ich Euch noch ein Bier bringen, Master Payne?«
Er hatte sich nicht erhoben. Nicht dass Jewel von ihm erwartet hätte, dass er sich um sie bemühte – ganz im Gegenteil: Der Gedanke an seine Aufmerksamkeit ließ sie eher erschaudern. Alle Beteiligten wussten, dass es sich bei ihrer Ehe um nichts weiter als um ein geschäftliches Arrangement handelte. Payne brauchte eine Haushälterin und eine Mutter für seine fünf Kinder, und Jewel brauchte jemanden, der sich um sie kümmerte. Zumindest hatte ihre Mutter das so beschlossen. Obwohl Jewel nicht so empfand, konnte sie verstehen, warum ihre Mutter so handelte. Ihre größte Sorge war es, dass ihre Tochter ihr Herz an den falschen Mann verlieren und in die gleiche Falle tappen könnte, in der sie sich selbst vor Jahren wiedergefunden hatte: unverheiratet, schwanger und allein.
»Jewel.« Die schneidende Stimme ihrer Mutter rief sie jäh aus ihren Gedanken in die Gegenwart zurück. Sorgenfalten durchfurchten ihre Stirn und hatten sie seit dem Morgen sichtbar altern lassen. »Master Payne sorgt sich wegen des Ärgers, den wir mit unseren Kunden haben. Er hält es nicht für schicklich, dass ein Mädchen wie du sich in der Gesellschaft von solchen Männern aufhält.«
Payne schüttete eine Prise Schnupftabak auf die Fläche zwischen Daumen und Zeigefinger und sog sie geräuschvoll durch seine lange Nase ein. Nach einem heftigen Niesen räusperte er sich. »Solche Gewaltausbrüche sind ein sicheres Anzeichen für ein cholerisches Temperament. Zu viel Galle. Könnte den Guten nicht schaden, mal ordentlich geschröpft zu werden.«
Jewel versuchte, ihr Lächeln nicht zu einer Grimasse werden zu lassen. Latimer Payne hatte unentgeltlich an ihrem Arm eine Brandwunde behandelt, die sie sich am Küchenfeuer geholt hatte, und anschließend um ihre Hand angehalten. Er hatte eine gläserne Schale erhitzt, sie auf die Brandwunde gelegt und die Blase, die daraufhin entstanden war, aufgestochen. Die Wunde war verheilt, aber die Blase hatte sich entzündet.
»Vielleicht könnten sie durch Eure guten Behandlungsmethoden von ihrem Leiden befreit werden,
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