Der Spitzenkandidat - Roman
Dauernörgler, zudem politisch auf der anderen Seite.
„In fünf Minuten bin ich weg“, drohte er und blieb stur an seinem Platz sitzen.
Alle anderen, auch Wagner, gingen zum Büfett und füllten ihre Teller mit Lachsschnittchen, Käsehäppchen und Krabbenbrötchen. Wagner hätte ein Brötchen mit Marmelade vorgezogen. So begnügte er sich mit einem Joghurt und Kaffee aus Isolierkannen in den Farben von Hannover 96.
Mit dem Essen besserte sich die Stimmung. Das neueste iPhone aus Korea wurde begutachtet, ein Reporter zeigte als Kontrastprogramm einen uralten Vierfarbkugelschreiber von Pelikan herum, den er im Nachlass des kürzlich verstorbenen Großvaters gefunden hatte. Wagner dachte: Gib ihnen zu essen und zu trinken und etwas zu spielen. Mehr brauchen sie nicht, um glücklich zu sein.
„Guten Morgen, die Herrschaften. Behalten Sie doch Platz! Den Kniefall führen wir erst nach der Wahl ein.“
Eine der unangenehmsten Eigenschaften von Uwe Stein war die Fähigkeit, plötzlich mitten im Raum zu stehen. Jovial lächelnd, mit Augen, die nicht mitlächelten, machte er die Runde, schüttelte Hände. Der Mann von Radio RFN, der sich inzwischen doch noch am Büfett bedient hatte, wurde durch einen Klaps auf die Schulter geadelt. Stein behandelte seine Gegner stets besonders zuvorkommend, seine politischen Freunde wusste er ja ohnehin auf seiner Seite, um die musste er nicht buhlen.
Wie immer war er tip-top gekleidet. Der graublaue Sommeranzug mit dem hellblau gestreiften Hemd betonte das Blau seiner Augen.
Angeblich war Stein in der Parteizentrale aufgehalten worden. Näher äußerte er sich nicht, es war auch nicht notwendig. Jeder im Raum wusste, als Spitzenkandidat befindet er sich im Dauerstress.
Obwohl Wagner, der sich in der Wahl der Kleidung nach einem Vorfall in der ersten Arbeitswoche keine Nachlässigkeit mehr leistete, korrekt angezogen war, fiel er gegen Uwe Stein total ab. Uwe Stein konnte einen Anzug tragen, ohne darin wie verkleidet auszusehen. Wagner wusste um die Hintergründe: um die Stilberaterin aus Berlin, die nur mit Mühe davon abzuhalten gewesen war, Steins Team komplett neu einzukleiden, die Imageberaterin, die als früheres Ensemblemitglied des Schauspielhauses dafür prädestiniert war, mit Stein auch an Sprache und Sprechweise zu arbeiten, den Starfriseur aus Hamburg und seit einigen Monaten auch noch einen Medienberater. Zwischen den beiden Männern hatte die Chemie vom ersten Tag an gestimmt. Der Berater hatte die Medienarbeit der Partei als schlechten Witz entlarvt und ihr eine neue Präsentation aufgezwungen. Wagner war nicht begeistert gewesen, Stein umso mehr. Auch sein anfänglicher Widerstand war schnell zerbröselt, denn der Berater verfügte über ein Buch mit Namen und Nummern, die Gold wert waren. Seit dieser Mann sich in den Räumen von Landesregierung und Regierungspartei herumtrieb, hatten sich Türen zu Adressen geöffnet, die bis dahin das Land Niedersachsen vor allem mit Nordsee, Ostfriesenwitzen und einem Staatskonzern, der Autos produzierte, in Verbindung gebracht hatten.
Auch wenn Wagners Verhältnis zu Uwe Stein nicht das beste war und nicht annähernd so unverkrampft wie zu seinem früheren Chef, dem noch amtierenden, aber amtsmüden Regierungschef von Niedersachsen, war ihm klar: Stein tut der Partei gut. Selbst seine Gegner vom konservativen Flügel mussten das einräumen. Seitdem er in die erste Reihe gerückt war, lieferte er stets bessere persönliche Werte als seine Partei. In deutschlandweiten Rankings hatte er es bis auf Rang 5 gebracht – beachtlich für einen Politiker, der bisher kein Regierungsamt bekleidet hatte.
Jetzt nötigte er die Journalisten, erst in Ruhe zu essen, bevor man anschließend in medias res ginge. Er selbst aß nichts. Seine schlanke, durchtrainierte Figur war ihm wichtig, sie brachte ihm Punkte bei der weiblichen Wählerschaft. An der Art, wie er zu Wagner hinüberschlenderte, erkannte der, dass es unangenehm werden könnte. Weniger Journalisten als angemeldet, das war nicht nach Steins Geschmack.
„Was war gleich noch mal der Grund gewesen, Sie einzustellen?“
Wagner antwortete sofort. Weil er wusste, dass jede Antwort falsch wäre, konnte er es auch schnell hinter sich bringen.
„Professionalität. Erfahrungen als Regierungssprecher, Verbindungsmann zwischen Regierung und Partei.“
Er bot Stein ein Lächeln an. Im Grunde bot er seine Kehle dar.
Stein kommentierte seine Bemerkung nicht, blickte ihn an, mit dem
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