Der Spitzenkandidat - Roman
doch einfach mit meiner Frau. Vereinbaren Sie ein Interview mit ihr, nur unter Frauen. Um die Terminabsprache wird sich Herr Wagner gerne kümmern.“
Wagner nickte und bewunderte ihn im Stillen: ein Profi durch und durch. Er weiß, dass das Interview niemals zustande kommen wird. Ich weiß es. Er weiß, dass ich es weiß. Und trotzdem bleibt er souverän.
Der Mann von Radio RFN hob die Hand. Es ging um Atommüll, um Castor-Transporte, Asse und um Windparks an der Küste. Stein hatte auf alles eine Antwort. Ihm war kein Thema fremd. Fast spürte Wagner so etwas wie Stolz. Selbst wenn es manchmal brutal mit ihm gewesen war, überwog jetzt die Genugtuung. Sich im Glanz dieses begabten Politikers zu bewegen, gehörte zu den Sonnenseiten seines Jobs.
Auf der Rückfahrt zur Parteizentrale wartete Wagner darauf, dass Stein sich über die freche Fröhlich beschweren würde, vor allem über ihr penetrantes Beharren auf privaten Themen. Außerdem würde er sicher erwähnen, dass das Interview niemals zustande kommen würde. Aber Stein redete über die Wahlplakate der zweiten Serie. Diese seien besser als jene der ersten Serie, auf denen habe er zu streng gewirkt. Auf den neuen Fotos sähe man ihm den Freiberufler an, die Eigeninitiative, das Selbstständige eben, das, wovon die meisten Wähler träumten, aber was sie selbst nie in die Tat umsetzen könnten, weil sie zu feige und mittelmäßig seien. Im kleinen Kreis ließ sich Stein gerne über die Wähler aus, die bestenfalls Mittelmaß seien, viele bildungsfern, wie er meinte. „Die meisten haben sich in ihrer Bequemlichkeit gut eingerichtet und spekulieren darauf, dass die Politiker alle Schwierigkeiten von ihnen fernhalten. Sie wollen die unbequemen Wahrheiten nicht hören, nicht, dass es mit dem Nachkriegswohlstand in Deutschland ein für allemal vorbei ist, nicht, dass wir ein alterndes Volk sind und uns unsere Rente schon lange nicht mehr leisten können, und auch nicht, dass der Staat total überschuldet ist und wir kurz vor dem Staatsbankrott stehen.“
Wagner war sich sicher, dass Stein nicht zu der Sorte Politiker gehörte, die Angst hatte, den Menschen reinen Wein einzuschenken. Er kannte niemanden, der so mutig war wie Stein. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen wäre – nach der gewonnenen Wahl –, würde Stein Klartext reden und sein Spruch von den unbequemen Wahrheiten nicht länger nur Rhetorik sein.
Jetzt bestand Stein darauf, die zweite Plakatserie eine Woche vorzuziehen, Wagner solle sich darum kümmern. Klar würde er das. Das war schließlich sein Job und der brachte ihm 12.000 Euro mehr im Jahr ein als seine vorherige Tätigkeit. Wenn Stein besonders schlecht drauf war und ihn in die Zange nahm, betrachtete er die Erhöhung als Schmerzensgeld.
Stein lästerte noch ein wenig. Er konnte erstaunlich zynisch sein und lachte am lautesten über seine eigenen Ausfälle. Das waren die Momente, in denen Wagner sich für seinen Job als Wahlkampfmanager schämte.
2
Isabel hörte, wie die Haustür ins Schloss gezogen wurde. Punkt sieben, jeden Morgen um Punkt sieben, ihr Mann hatte feste Gewohnheiten. Sie stützte sich im Bett auf. Der rechte Arm tat weh. Wenn sie den Ellenbogen belastete, schoss spitzer Schmerz in die Schulter. Gestern Abend war es schlimmer als sonst gewesen. Wie besessen hatte er auf sie eingeschlagen. Meistens mit der flachen Hand, aber gestern hatte er sich nicht mehr gebremst und auch mit dem Handrücken geschlagen.
Sie brauchte lange, um das Nachthemd über den Kopf zu ziehen. Der rechte Arm gehorchte nicht. Nackt stand sie vor dem Wandspiegel. Kein Gramm Fett zu viel an ihren Hüften, auch ihr Bauch war flach. Oberschenkel und Hintern waren gut proportioniert. Keine Spur von Cellulite. Die Jahre waren gnädig mit ihr umgegangen. Das Leben nicht.
Blaue Flecken, frische und verblassende, an ihren Brüsten, Hämatome am Hintern, rote Striemen an Armen und Beinen zeugten davon.
Es würde warm werden heute und sie würde eine Bluse mit langen Ärmeln tragen. Die Lüge von der angeblichen Sonnenallergie ging ihr inzwischen leicht über die Lippen. Von Jahr zu Jahr wurde es leichter, die Menschen zu täuschen. Der Vater war gestorben, die Mutter lebte in Almería, der Kontakt zu den Freundinnen war abgerissen. Uwe hatte es so gewollt und es war auch besser so. Nur mit den Nachbarn musste sie reden, ab und zu. Aber sie strahlte etwas aus, das die Nachbarn auf Abstand hielt. „Es ist besser so“, hatte Uwe gesagt, „besser für uns
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