Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter
Gustav wusste, dass er beobachtet wurde.
Er konnte es allerdings nicht beweisen, denn es handelte sich nur um ein Gefühl, einen Instinkt.
Instinkte hatten Ritter Gustav Hurensohn siebzig Jahre lang am Leben erhalten. Er wusste, dass es ratsam war, sie nicht zu ignorieren.
Zum ersten Mal hatte er es vor drei Tagen gespürt, als er hier in dieser gottverlassenen Wildnis eingetroffen war. Er war einem alten Weg gefolgt, der sich am Fluss Deverel entlang zog. Der Weg war vermutlich zunächst von Tieren gebahnt worden, obwohl die Menschen, die einmal in dieser Gegend gelebt hatten, sich ihn später ausgeliehen hatten. Inzwischen hatten sie ihn allerdings längst wieder den Hirschen und Wölfen zurückgegeben, denn die einzigen Spuren, die Gustav nun entdecken konnte, waren Tierspuren.
Da er wusste, dass er wahrscheinlich seit hundert Jahren der erste Mensch war, der einen Fuß in diese Gegend setzte, war Gustav verständlicherweise beunruhigt, als er an diesem Morgen mit dem eindeutigen Gefühl aufgewacht war, dass er nicht allein war.
Dennoch, er konnte es nicht beweisen. Die Nächte, die er in einem Zelt verbrachte, verliefen ruhig und friedlich. Manchmal wachte er auf und glaubte, leise Schritte gehört zu haben, aber es stellte sich immer heraus, dass er sich geirrt hatte. Sein gut ausgebildetes Streitross hätte ihn sofort geweckt, wenn jemand in der Nähe gelauert hätte, aber das Tier blieb ruhig, und nichts außer den Fliegen schien es zu stören.
Den Tag über, während er seine Suche fortsetzte, bediente sich Gustav aller Kunstgriffe, die er kannte – und er hätte ein Buch über solche Dinge schreiben können –, um die Person zu erwischen, die ihm folgte. Er hielt Ausschau nach einem Aufblitzen von Sonnenlicht auf Metall, aber er sah nichts. Er blieb abrupt stehen, so wie jetzt, und versuchte, die Schritte von jemand zu hören, der sich weiterbewegte, nachdem er stehen geblieben war. Er suchte nach Anzeichen dafür, dass sich jemand in unmittelbarer Nähe befand – Fußabdrücke im Schlamm des Flussufers, wo er sich wusch oder erleichterte, Fischköpfe von einer Mahlzeit, zerbrochene Zweige, geknickte Äste.
Nichts. Gustav hörte nichts. Er sah nichts. Aber instinktiv spürte er alles, spürte Augen, die ihn beobachteten, spürte, dass ihr Blick feindselig war.
Gustav zählte allerdings nicht zu den Leuten, die sich durch vages Unbehagen von etwas abhalten lassen. Er befand sich hier auf einer Suche, die er schon vor vierzig Jahren begonnen hatte, und er dachte nicht daran, die Region wieder zu verlassen, ehe er damit fertig war. Er hatte sich nun seit drei Tagen umgesehen und noch nichts gefunden. Er war nicht einmal sicher, dass er an der richtigen Stelle suchte. Seine einzige Anleitung bestand aus einer kurzen Beschreibung, die er auf der mumifizierten Leiche eines der Mönche vom Drachenberg gefunden hatte. Nachdem er jahrelang gesucht hatte und dabei immer wieder nur in Sackgassen geraten war, war Gustav ein letztes Mal in das Kloster dort zurückgekehrt.
Die Mönche vom Drachenberg waren die Hüter der Geschichte von Loerem. Sie und ihre Mitarbeiter durchreisten den Kontinent, wurden Zeugen der Geschichte und zeichneten sie auf ihren eigenen Körpern auf. Nach ihrem Tod blieben ihre Leichen erhalten, weil die Mönche zu ihren Lebzeiten so viel heiligen Tee getrunken hatten, und ihre Leichen und all das Wissen, das darauf aufgezeichnet war, wurden in den Grüften des Drachenbergs aufbewahrt. Jeder in Loerem konnte zu diesem Berg gehen, um etwas über die Vergangenheit zu erfahren, und würde es bei den schlummernden Mumien finden.
Gustav hatte die historischen Aufzeichnungen über jedes Volk in Loerem während der Zeitspanne, die ihn interessierte, studiert.
Er hatte Hinweise auf unzählige Orte gefunden, an denen sich der Gegenstand, nach dem er suchte, vielleicht befinden könnte. Er hatte all diese Orte und hundert mehr aufgesucht und war mit leeren Händen zurückgekehrt. Gab es noch irgendeine, wenn auch noch so unwichtig scheinende Information, die ihm entgangen war? Irgendetwas, das ihm einen Hinweis geben könnte? Hatten die Mönche die Aufzeichnungen wirklich sorgfältig genug studiert?
Ein Klosterschüler lauschte dem alten Ritter interessiert und führte Gustav mit Erlaubnis der Mönche in die heilige Gruft. Die beiden untersuchten die mumifizierten Überreste der Historiker, die dort lagen, betrachteten die eintätowierten Zeichen, die sich um ihre Körper wanden. Gustav
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