Der Sohn des Donnergottes
Vorrede
Der Himmel der Finnen wird von einem Weltnagel an Ort und Stelle gehalten, dessen Fixpunkt der Polarstern ist. Der Himmel an sich ist ein schwindelerregend weitläufiges Firmament, erleuchtet von Tausenden von Sternen. Dort regieren die finnischen Götter und Schutzgeister, und dort wohnen die verstorbenen guten Finnen. Die größte Macht liegt in den Händen von Obergott Ukko, dem Donnergott.
Der Himmel der Finnen ist älter als die ganze restliche Welt, und die Götter der Finnen sind noch älter. Es gibt keine anderen Götter, die so alt sind. Der älteste von allen ist der Donnergott. Er ist so alt, daß noch nichts fertig und noch kein einziger Gott geboren war, als er sein jetziges Alter schon fast erreicht hatte. Der Donnergott ist nicht nur der älteste, sondern auch der strengste und stärkste. Er ist der beste.
Manchmal gibt der Donnergott im Sommer den Befehl, den Himmel mit einem Regenbogen zu verzieren, und zum winterlichen Himmelsfest wird das Firmament mit flackernden Nordlichtern garniert. Der Donnergott kann die Erde beben lassen, Orkane und Sintfluten hervorrufen, glühende Lava aus Vulkanen ausbrechen lassen, er kann explodierende Meteoriten auf die Erde schleudern, Satelliten aus ihren Umlaufbahnen bringen und Mond und Sonne verfinstern. Mit Blitz und Donner sendet er seine Botschaften auf die Erde. Dann fürchten die Menschen um ihr Leben.
Die toten Finnen, die in ihrem Leben böse Taten begangen haben, kommen in die Hexenküche. Dort kochen ihnen Lempo und Turja das böse Blut ab. Wenn die Verstorbenen das aushalten, dürfen sie auf einem Kiefernbrett den glühenden Unterweltfluß hinabfahren, durch viele siedendheiße Stromschnellen hindurch, bis sie in die Unterwelt Tuonela oder ins Totenreich Manala gelangen. Wer dabei in die heißen Fluten stürzt, ist nicht mehr zu retten. Der Hund von Tuonela zieht den jämmerlichen Leib ans Ufer, um ihn dort zu verschlingen. Nur die bleichen Knochen bleiben auf dem Uferkies zurück und erzählen vom Ende des Unglücklichen.
Vor langer Zeit, als nur Finnen auf der Welt lebten und es noch keine anderen Völker gab, herrschte der Donnergott über alles Lebende, im Himmel wie auf der Erde. Er war der König des großen Firmaments, der Herr des Wassers und des Landes. Und es war gut so.
Aber die Zeiten ändern sich, im Himmel wie auf Erden. Heutzutage gibt es auf der Welt Tausende von Völkern und Rassen, Tausende neue Religionen und Millionen von Göttern. Das finnische Volk, der finnische Himmel und die finnischen Götter sind nur ein geringer Bestandteil dieses unvorstellbar großen Ganzen.
Das schlimmste ist, daß das Volk Finnlands seine Götter nicht mehr ehrt und ihnen nicht mehr opfert. Die Finnen haben sich dem christlichen Glauben zugewandt und verleugnen ihre eigenen Götter. Viele wissen nicht einmal, daß die Finnen immer noch einen eigenen Himmel und eigene Götter haben. Es gibt nur noch ungefähr fünfhundert Verehrer der alten Götter in Finnland, die aber trauen sich nicht, sich Öffentlich zu ihrem Glauben zu bekennen, denn das würde ihnen ernsthafte Schwierigkeiten bereiten. Ruft ein Finne heutzutage den Donnergott um Hilfe, kann er wegen Götzenverehrung oder Verunglimpfung des christlichen Gottes verklagt werden. Er verliert seinen Arbeitsplatz, wird unter Umständen zu Gefängnis oder Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt verurteilt, und seine Kinder und die Gattin werden zum Ziel von Hohn und Spott.
Einer der wenigen, die noch den alten Göttern huldigen, ist Sampsa Ronkainen, ein vierzigjähriger Landwirt und Antiquitätenhändler. Er besitzt eine heruntergekommene Landwirtschaft in der Provinz Uusimaa, in der Gemeinde Suntio, und betreibt einen Antiquitätenladen im Helsinkier Stadtteil Punavuori in einer Straße namens Iso Roobertinkatu.
Seit kammkeramischer Zeit hat Ronkainens Familie an die wahren finnischen Götter geglaubt, ihnen gehuldigt und Opfergaben dargebracht. Sampsa ist geimpft, aber nicht konfirmiert. Er gehört nicht der evangelisch-lutherischen Kirche an und besucht auch nicht den Gottesdienst. Er hat die Angewohnheit, wenn es die Umstände erfordern, zu Ukko Obergott zu beten, denn er glaubt an die alten Götter, so wie seine Väter und Vorväter zu ihrer Zeit. Dennoch verheimlicht Sampsa seinen Glauben. Kein Mensch weiß davon, und darum kann Sampsa Ronkainen in Finnland seinem Broterwerb nachkommen, ohne von der Inquisition verfolgt zu werden.
Weil Sampsa Ronkainen ein gläubiger Mensch ist,
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