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Der Stein - Hohler, F: Stein

Der Stein - Hohler, F: Stein

Titel: Der Stein - Hohler, F: Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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hielt ihm nun ein Quecksilberthermometer hin, das sich Balz unter die Achsel steckte. Es zeigte, als es ihm der König herauszog, 40 Grad. Balz erschrak. »Ein Arzt«, flüsterte er. Der König ging zum Fenster und öffnete es kurz. Ein Windstoß fuhr hinein und wirbelte eine Ladung Schnee ins Zimmer. Der König schloss das Fenster und schüttelte den Kopf. Balz, ratlos, dämmerte wieder ein.
    Nach einer Weile wurde er wachgerüttelt. Er wollte das Bett nicht verlassen, aber der stumme König fasste ihn unter den Armen und setzte ihn auf. Er gab ihm ein
halbes Glas Wasser zu trinken, in dem er Aspirin oder Treupel aufgelöst hatte. Balz schluckte es angewidert hinunter, dann bekam er wieder Kamillentee. Darauf zog ihm der König das Unterhemd aus und frottierte ihn trocken, dann streifte er ihm sein Pyjama über. Danach wechselte er seine langen Unterhosen gegen seine Pyjamahosen aus. Balz stöhnte und wollte sich wieder hinlegen, doch der König zog ihm zuerst die Wanderhosen, dann sein Hemd an, und darüber noch ein Hemd, und seinen dicken Pullover, und seine wattierte Windjacke. Dann setzte er ihm seine Wollmütze auf, legte ihm sein Stirnband darum und zog die Kapuze hoch. Es folgten die Handschuhe und die Moonboots, und zuletzt wickelte er seinen weißen Mantel um ihn. Der vierte König hatte alles vorbereitet. Er trug Balz wie ein Kind die Treppe hinunter, legte ihn mit dem Kopf nach vorne auf den Hornschlitten, der im Hauseingang stand, und band ihn mit drei starken Riemen fest, die er ihm über die Fesseln und über Brust und Bauch zog. Dann stieß er den Schlitten auf den Vorplatz, wo der Sturmwind heulte, schloss die Tür hinter sich, nahm eine Stabtaschenlampe in seinen Mund, fasste die Hörner, machte ein paar Schritte, setzte sich auf die Vorderkante des Schlittens, und dann begann die Fahrt.
    Balz wollte schreien, aber seine Stimme blieb weg. Der König fuhr mit ihm durch die Hauptgasse des menschenleeren Dorfes, auf das der Schnee wie Papierfetzen fiel, Balz schien, er höre wilden Gesang aus der Dorfwirtschaft, aber schon waren sie daran vorbei, vielleicht war
es auch bloß der Wind, welcher Bäume, Ställe und Zäune zum Singen brachte, immer noch versuchte Balz zu schreien, um dem König sein Vorhaben auszutreiben, aber der ließ sich nicht beirren, schien hier Weg und Steg zu kennen, denn bald verließ er die Poststraße und sauste mit ihm über steile Holzwege durch die Wälder, die vom Sturm geschüttelt wurden, und schließlich gab Balz seinen Widerstand auf, er hatte keine andere Wahl, als dem Schlittenfahrer zu vertrauen, dessen Overall er neben seinem Kopf spürte. Ob der König nicht fror? Balz, in seinen weißen Mantel eingehüllt, hatte nicht nur warm, er fühlte sich geborgen, geborgen wie noch nie in seinem Leben, er schloss die Augen, und das Gleiten der Kufen, das Toben des Nachtsturms, das Keuchen des Königs, der mit seiner Lampe im Mund eine Lichtbresche in die dunkle Wand vor ihnen schlug und sich manchmal mit seinem roten Auge an der Stirn kurz zu ihm umwandte, all das schüttelte seine Gedanken so durcheinander, dass er irgendeinmal das Bewusstsein verlor.
    Als er die Augen wieder aufschlug, lag er in einem Spitalbett. Flüssigkeit träufelte aus einem aufgehängten Sack durch einen Infusionsschlauch in seine Vene, und eine Pflegerin maß ihm den Puls. »Hallo Herr Kamber«, sagte sie, »da sind Sie ja wieder.«
    Balz begriff nichts. »Wo bin ich?« fragte er.
    Er erfuhr, dass er im Kreisspital des Tales war und dass ihn einer mit einem Hornschlitten nachts eingeliefert habe. Man habe ihn sofort operieren müssen, sagte die
Pflegerin, aber gleich komme der Arzt, der werde es ihm genauer sagen.
    Erst jetzt spürte Balz, dass er einen Verband am Steißbein hatte.
    Das sei, sagte ihm der Arzt, ein gut gelaunter, etwas untersetzter Mann, dessen weißer Kittel sich über ein Bäuchlein spannte, ein eitriger Abszess gewesen, der sich entzündet habe und den man so rasch als möglich habe entfernen müssen.
    Seit wann er den wohl gehabt habe und warum ihm nichts aufgefallen sei vorher.
    »Sie werden es nicht glauben«, sagte der Arzt, »aber den hatten Sie schon im Mutterleib. Zusammen mit Ihnen hat sich ein zweiter Fötus entwickelt, der mit Ihrem Fötus am späteren Steißbein zusammengewachsen war, aber schon im Uterus abstarb. Sie hätten einen Zwilling haben können, deshalb nennen wir das einen Zwillingsabszess. Der kann sich vierzig Jahre lang stillhalten, wie bei Ihnen, und dann

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