Der Stein - Hohler, F: Stein
deines Hustens? … Ach so, es koste zu viel …
Ich muss schauen, dass sich mein grünes Fiederblatt vom dunkleren Grün dahinter abhebt und doch nicht zu hell wird, denn eigentlich ist es Nacht auf meinem Bild, und das Licht darauf kommt vom Vollmond … Ich glaube, ich gebe dem Blatt dahinter noch etwas Blau, von dem, das ich für die beiden Kerzenblumen darunter gebraucht habe …
Manche Wörter in unserer Sprache sind zu groß… Wenn du »grün« sagst, ist es so, wie wenn du »Baum« sagst, du weißt noch nicht, ist es eine Linde, eine Birke, eine Palme oder eine Eberesche … Was meinst du? … Dein rotes Blatt sei an den Rändern etwas gelb? Sehr gut, Claude, sehr gut hast du das beobachtet, wieso hab ich dir nicht gleich einen gelben Farbstift dazu gegeben… Hier ist er, und scheue dich nicht, damit auch ins Rote hineinzuzeichnen, aber gib nicht zu viel Druck, und wenn’s zu gelb wird, geh nochmals mit Rot drüber …
Eigentlich ist jede Farbe eine Mischung… Wenn ich das Geld von Roberts Mutter habe, geh ich wieder bei Foinet vorbei und kaufe mir neue Farben, der hat ein ganzes Regal nur mit Grün … Hellgrün, Dunkelgrün, Englischgrün, Tannengrün, Grasgrün, Moosgrün, Pastellgrün, Smaragdgrün, Giftgrün … Aber meine Grüntöne misch ich mir meistens selbst, die müssten auch andere Namen haben, unten links, beim Stelzvogel, diese fleischigen Blätter – wie wär’s mit fleischgrün? Und das Gras? Froschgrün? Und das Wasser? Fischgrün? Und die
Schlange um den Hals der Beschwörerin? Schlangengrün? Krötengrün, dschungelgrün? Ich schreibe auch Gedichte, weißt du das? Und sogar Theaterstücke … Aber die Sprache hat einfach weniger Farben als die Malerei … Du hustest – nimm das Taschentuch hier… Ich höre das nicht so gern, Claude … Von meinen neun Kindern haben sieben gehustet … Erwachsen wurden bloß zwei, und heute lebt nur noch meine Tochter, Julia, sie hat einen Commis voyageur geheiratet, führt in Angers ein spießbürgerliches Leben und schämt sich für ihren Vater, weil sie denkt, Künstler seien Spinner … Ich sage dir etwas, Claude, dein Vater denkt wohl dasselbe, aber deshalb musst du dich nicht schämen für ihn … Er sorgt für dich und hat dich bestimmt gern …
Ein bisschen hat sie sogar recht, meine Tochter …
Ich habe ja zwanzig Jahre im Büro gearbeitet, beim Lebensmittelzoll, ich musste die Verzollungsformulare für die Großhändler ablegen, für die Oliven aus Spanien, den Wein aus Italien, den Tee aus Indien und den Kaffee aus Afrika, aber auch die Formulare mit den Bußen für die Schmuggler, die erwischt wurden … ich war also Zöllner, könnte man sagen … Und weißt du, was ich heute bin? … Schmuggler! Ich habe das Lager gewechselt, ich schmuggle Schönheit in unser Leben … Und gebüßt werde ich auch dafür, sonst wäre mein Geldbeutel nicht so leer… Was ist? Du hörst deine Mutter rufen?… ( geht zum Fenster und schaut hinunter ) Tatsächlich. ( ruft ) Madame Perrot! Danke für den Flammkuchen! … Claude muss einkaufen gehen? … Ich schick ihn gleich runter! …
( geht zur Kommode, zieht eine Schublade heraus, entnimmt ihr ein Schächtelchen ) Claude, du musst für deine Mutter Kommissionen machen … Und das hier ist meine Musikkasse … Da leg ich das Geld hinein, das ich bekomme, wenn ich als Straßenmusikant gehe und in den Hinterhöfen Geige spiele … Gib es deiner Mutter mit einem Gruß von mir und sag, sie soll damit mit dir zum Arzt gehen… Dein Blatt lässt du vielleicht besser hier, bis zum nächsten Mal … Adieu, gern geschehen, du bist ein begabter Zeichner, Claude, es wäre schade um dich … Unsere Welt braucht Schmuggler, Schmuggler wie dich und mich. Zöllner hat sie genug.
DER BLEISTIFTSTUMMEL
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1
Ich hatte mir nichts dabei gedacht, als ich den kleinen gelben Bleistiftstummel auflas, der auf dem gepflasterten Weg in der Nähe des verfallenen alten Turms lag.
In derselben Nacht aber klopfte es so lange an meine Tür, bis ich öffnete. Zwei Riesen standen davor und packten mich.
»Du hast unsern Bleistift gestohlen«, sagte der eine, »jetzt musst du unsere Geschichte aufschreiben!«
Sie schleppten mich in den Keller des Turms, ketteten mich an einen schweren Tisch, und seither notiere ich jede Nacht beim Scheine zweier Fackeln ihre Untaten in ein großes Buch, muss die Schreie der Gequälten und die erbarmungslosen tödlichen Schläge der Riesen niederschreiben, die sie mit rohem Gelächter
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