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Der Steppenwolf

Der Steppenwolf

Titel: Der Steppenwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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vorkommt, so, als stünde er auf allerschmalster Felsenspitze, wo ein kleiner Stoß von außen oder eine winzige Schwäche von innen genügt, um ihn ins Leere fallen zu lassen. Diese Art von Menschen ist in ihrer Schicksalslinie dadurch gekennzeichnet, daß der Selbstmord für sie die wahrscheinlichste Todesart ist, wenigstens in ihrer eigenen Vorstellung. Voraussetzung dieser Stimmung, welche fast immer schon in früher Jugend sichtbar wird und diese Menschen ihr Leben lang begleitet, ist nicht etwa eine besonders schwache Lebenskraft, man findet im Gegenteil unter den »Selbstmördern« außerordentlich zähe, begehrliche und auch kühne Naturen. Aber so wie es Naturen gibt, die bei der kleinsten Erkrankung zu Fieber neigen, so neigen diese Naturen, die wir »Selbstmörder« heißen und die stets sehr empfindlich und sensibel sind, bei der kleinsten Erschütterung dazu, sich intensiv der Vorstellung des Selbstmordes hinzugeben. Hätten wir eine Wissenschaft, die den Mut und die Verantwortungskraft besäße, sich mit dem Menschen zu beschäftigen, statt bloß mit den Mechanismen der Lebenserscheinungen, hätten wir etwas wie eine Anthropologie, etwas wie eine Psychologie, so wären diese Tatsachen jedem bekannt.
    Was wir hier über die Selbstmörder sagten, bezieht sich alles selbstverständlich nur auf die Oberfläche, es ist Psychologie, also ein Stück Physik. Metaphysisch betrachtet sieht die Sache anders und viel klarer aus, denn bei solcher Betrachtung stellen die »Selbstmörder« sich uns dar als die vom Schuldgefühl der Individuation Betroffenen, als jene Seelen, welchen nicht mehr die Vollendung und Ausgestaltung ihrer selbst als Lebensziel erscheint, sondern ihre Auflösung, zurück zur Mutter, zurück zu Gott, zurück ins All. Von diesen Naturen sind sehr viele vollkommen unfähig, jemals den realen Selbstmord zu begehen, weil sie dessen Sünde tief erkannt haben. Für uns sind sie dennoch Selbstmörder, denn sie sehen im Tod, nicht im Leben den Erlöser, sie sind bereit, sich wegzuwerfen und hinzugeben, auszulöschen und zum Anfang zurückzukehren.
    Wie jede Kraft auch zu einer Schwäche werden kann (ja unter Umständen werden muß), so kann umgekehrt der typische Selbstmörder aus seiner anscheinenden Schwäche oft eine Kraft und eine Stütze machen, ja er tut dies außerordentlich häufig. Zu diesen Fällen gehört auch der Harrys, des Steppenwolfes. Wie Tausende von seinesgleichen, machte er aus der Vorstellung, daß ihm zu jeder Stunde der Weg in den Tod offenstehe, nicht bloß ein jugendlich-melancholisches Phantasiespiel, sondern baute sich aus ebendiesem Gedanken einen Trost und eine Stütze. Zwar rief in ihm, wie in allen Menschen seiner Art, jede Erschütterung, jeder Schmerz, jede üble Lebenslage sofort den Wunsch wach, sich durch den Tod zu entziehen. Allmählich aber schuf er sich aus dieser Neigung gerade eine dem Leben dienliche Philosophie. Die Vertrautheit mit dem Gedanken, daß jener Notausgang beständig offen stehe, gab ihm Kraft, machte ihn neugierig auf das Auskosten von Schmerzen und üblen Zuständen, und wenn es ihm recht elend ging, konnte er zuweilen mit grimmiger Freude, einer Art Schadenfreude, empfinden: »Ich bin doch neugierig zu sehen, wie viel eigentlich ein Mensch auszuhalten vermag! Ist die Grenze des noch Erträglichen erreicht, dann brauche ich ja bloß die Tür zu öffnen und bin entronnen.« Es gibt sehr viele Selbstmörder, denen aus diesem Gedanken ungewöhnliche Kräfte kommen.
    Andrerseits ist allen Selbstmördern auch der Kampf gegen die Versuchung zum Selbstmord vertraut. Jeder weiß, in irgendeinem Winkel seiner Seele, recht wohl, daß Selbstmord zwar ein Ausweg, aber doch nur ein etwas schäbiger und illegitimer Notausgang ist, daß es im Grunde edler und schöner ist, sich vom Leben selbst besiegen und hinstrecken zu lassen als von der eigenen Hand. Dies Wissen, dies schlechte Gewissen, dessen Quelle dieselbe ist wie etwa für das böse Gewissen der sogenannten Selbstbefriediger, veranlaßt die meisten »Selbstmörder« zu einem dauernden Kampf gegen ihre Versuchung. Sie kämpfen, wie der Kleptomane gegen sein Laster kämpft. Auch dem Steppenwolf war dieser Kampf wohl bekannt, mit vielerlei wechselnden Waffen hatte er ihn gestritten. Schließlich kam er, im Alter von etwa siebenundvierzig Jahren, auf einen glücklichen und nicht humorlosen Einfall, der ihm oft Freude machte. Er setzte seinen fünfzigsten Geburtstag als den Tag fest, an welchem er sich

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