Der Steppenwolf
den Raum gestoßen, ward ich neben dem Büfett an einen Tisch gedrängt, ein hübsches bleiches Mädchen saß auf der Wandbank, in einem dünnen, tief ausgeschnittenen Ballkleidchen, eine verwelkte Blume im Haar. Das Mädchen blickte mich, als es mich kommen sah, aufmerksam und freundlich an, lächelnd rückte es ein wenig beiseite und machte mir Platz.
»Darf ich?« fragte ich und setzte mich neben sie.
»Gewiß, du darfst«, sagte sie, »wer bist du denn?«
»Danke«, sagte ich, »ich kann unmöglich nach Hause gehen, ich kann nicht, ich kann nicht, ich will hierbleiben, bei Ihnen, wenn Sie es erlauben. Nein, ich kann nicht heimgehen.«
Sie nickte, als verstünde sie mich, und indem sie nickte, betrachtete ich die Locke, die von ihrer Stirn am Ohr vorbeifiel, und ich sah, daß die welke Blume eine Kamelie war. Von drüben schmetterte die Musik, am Büfett riefen die Kellnerinnen hastig ihre Bestellungen aus.
»Bleib nur hier«, sagte sie mit einer Stimme, die mir wohltat. »Warum kannst du denn nicht heimgehen?«
»Ich kann nicht. Zu Hause wartet etwas auf mich – nein, ich kann nicht, es ist zu schrecklich.«
»Dann laß es warten und bleib da. Komm, wische dir erst die Brille ab, du kannst ja gar nichts sehen. So, gib dein Taschentuch. Was wollen wir denn trinken? Burgunder?«
Sie wischte mir meine Brille ab; nun sah ich sie erst deutlich, das bleiche, feste Gesicht mit dem blutrot gemalten Mund, mit den hellen grauen Augen, mit der glatten, kühlen Stirn, mit der kurzen straffen Locke vorm Ohr. Gütig und ein klein wenig spöttisch nahm sie sich meiner an, bestellte Wein, stieß mit mir an und sah dabei auf meine Schuhe hinunter.
»Mein Gott, woher kommst du denn? Du siehst aus, wie wenn du zu Fuß von Paris gekommen wärst. So kommt man doch nicht an einen Ball.«
Ich sagte ja und nein, lachte ein wenig, ließ sie reden. Sie gefiel mir sehr, und ich war darüber verwundert, denn solch junge Mädchen hatte ich bisher gemieden und eher mit Mißtrauenbetrachtet. Und sie war genau so mit mir, wie es in diesem Augenblick für mich gut war – o, und so ist sie auch seither zu jeder Stunde mit mir gewesen. Sie behandelte mich so schonend, wie ich es nötig hatte, und so spöttisch, wie ich es nötig hatte. Sie bestellte ein belegtes Brot und befahl mir, es zu essen. Sie schenkte mir ein und hieß mich einen Schluck trinken, aber nicht zu rasch. Dann lobte sie meine Folgsamkeit.
»Du bist brav«, meinte sie ermunternd, »du machst es einem nicht schwer. Wollen wir wetten, daß es lange her ist, seit du zum letztenmal jemandem hast gehorchen müssen?«
»Ja, Sie haben die Wette gewonnen. Woher wußten Sie denn das?«
»Keine Kunst. Gehorchen ist wie Essen und Trinken – wer es lang entbehrt hat, dem geht nichts darüber. Nicht wahr, du gehorchst mir gern?«
»Sehr gern. Sie wissen alles.«
»Du machst es einem leicht. Vielleicht, Freund, könnte ich dir auch sagen, was das ist, was daheim auf dich wartet und wovor du solche Angst hast. Aber du weißt es ja selber, wir brauchen nicht davon zu reden, gelt? Dummes Zeug! Entweder einer hängt sich auf, nun ja, dann hängt er sich eben auf, er wird Grund dazu haben. Oder er lebt noch, und dann hat er sich bloß um das Leben zu kümmern. Nichts ist einfacher.«
»O«, rief ich, »wenn das so einfach wäre! Ich habe mich, bei Gott, genug um das Leben gekümmert, und es hat nichts genützt. Sich aufhängen ist vielleicht schwer, ich weiß es nicht. Aber leben ist viel, viel schwerer! Weiß Gott, wie schwer es ist!«
»Nun, du wirst sehen, daß es kinderleicht ist. Den Anfang haben wir schon gemacht, du hast deine Brille geputzt, hast gegessen, hast getrunken. Jetzt gehen wir und bürsten deine Hosen und Schuhe ein wenig, sie haben es nötig. Und dann wirst du einen Shimmy mit mir tanzen.«
»Da sehen Sie«, rief ich eifrig, »daß ich doch recht hatte! Nichts tut mir mehr leid, als einen Befehl von Ihnen nicht ausführen zu können. Aber diesen kann ich nicht ausführen. Ich kann keinen Shimmy tanzen, und auch keinen Walzer und keine Polka und wie die Dinger alle heißen, ich habe nie in meinem Leben tanzen gelernt. Sehen Sie jetzt, daß doch nicht alles so einfach ist, wie Sie meinen?«
Das schöne Mädchen lächelte mit seinen blutroten Lippen und schüttelte den festen, knabenhaft frisierten Kopf. Indem ich sie ansah, wollte mir scheinen, sie gleiche der Rosa Kreisler, dem ersten Mädchen, in das ich mich einst als Knabe verliebt hatte, aber die war ja
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