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Der Steppenwolf

Der Steppenwolf

Titel: Der Steppenwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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würde gehen und mich allein lassen, und dann würde alles wieder, wie es vorher gewesen war. Wie ein vorübergehend verschwundener Zahnschmerz plötzlich wieder da ist und wie Feuer brennt, so war in einem Augenblick die Angst und das Grauen wieder da. O Gott, hatte ich denn vergessen können, was auf mich wartete? War denn etwas anders geworden?
    »Halt«, rief ich flehend, »gehen Sie – geh nicht fort! Natürlich kannst du tanzen, soviel du willst, aber bleib nicht lange fort, komm wieder, komm wieder!«
    Lachend stand sie auf. Ich hatte sie mir stehend größer gedacht, sie war schlank, aber nicht groß. Wieder erinnerte sie mich an jemand – an wen? Es war nicht zu finden.
    »Du kommst wieder?«
    »Ich komme wieder, aber es kann eine Weile dauern, eine halbe Stunde oder auch eine ganze. Ich will dir was sagen: mach die Augen zu und schlafe ein wenig; das ist, was du nötig hast.«
    Ich machte ihr Platz, und sie ging; ihr Röckchen streifte meine Knie, im Gehen blickte sie in einen runden, winzig kleinen Taschenspiegel, zog die Augenbrauen hoch, wischte mit einem winzigen Puderquästchen über ihr Kinn und verschwand im Tanzsaal. Ich blickte um mich: fremde Gesichter, rauchende Männer, verschüttetes Bier auf dem Marmortisch, Geschrei und Gekreische überall, nebenan die Tanzmusik. Ich solle schlafen, hatte sie gesagt. Ach, gutes Kind, du hast eine Ahnung von meinem Schlaf, der scheuer ist als ein Wiesel! In diesem Jahrmarkt schlafen, am Tisch sitzend, zwischen den klappernden Bierkrügen. Ich nippte am Wein, zog eine Zigarre aus der Tasche, sah mich nach Streichhölzern um, aber eigentlich war mir nichts am Rauchen gelegen, ich legte die Zigarre vor mir auf den Tisch.»Mach die Augen zu«, hatte sie zu mir gesagt. Weiß Gott, woher das Mädchen diese Stimme hatte, diese etwas tiefe, gute Stimme, eine mütterliche Stimme. Es war gut, dieser Stimme zu gehorchen, ich hatte es erfahren. Gehorsam machte ich die Augen zu, lehnte den Kopf an die Wand, hörte hundert heftige Geräusche mich umtosen, lächelte über die Idee, an diesem Ort zu schlafen, beschloß, an die Saaltür zu gehen und einen Blick in den Tanzsaal zu erhaschen – ich mußte doch mein schönes Mädchen tanzen sehen –, bewegte unterm Stuhl die Füße, fühlte erst jetzt, wie unendlich müde ich vom stundenlangen Umherirren war, und blieb sitzen. Und da schlief ich schon, dem mütterlichen Befehl getreu, schlief gierig und dankbar und träumte, träumte klarer und hübscher, als ich seit langem geträumt hatte. Mir träumte:
    Ich saß und wartete in einem altmodischen Vorzimmer. Zuerst wußte ich nur, daß ich bei einer Exzellenz angemeldet sei, dann fiel mir ein, daß es ja Herr von Goethe sei, von dem ich empfangen werden sollte. Leider war ich nicht ganz als Privatmann hier, sondern als Korrespondent einer Zeitschrift, das störte mich sehr, und ich konnte nicht begreifen, welcher Teufel mich in diese Situation hineingeritten habe. Außerdem beunruhigte mich ein Skorpion, der soeben noch sichtbar gewesen war und an meinem Bein hochzuklettern versucht hatte. Ich hatte mich zwar gegen das kleine schwarze Kriechtier gewehrt und geschüttelt, wußte aber nicht, wo es jetzt stecke, und wagte nirgends hinzugreifen.
    Auch war ich nicht ganz sicher, ob man mich nicht aus Versehen, statt bei Goethe, bei Matthisson angemeldet habe, den ich aber im Traum mit Bürger verwechselte, denn ich schrieb ihm die Gedichte an Molly zu. Übrigens wäre mir ein Zusammentreffen mit Molly höchst erwünscht gewesen, ich dachte sie mir wundervoll, weich, musikalisch, abendlich. Wäre ich nur nicht im Auftrag jener verwünschten Redaktion dagesessen! Mein Unmut hierüber stieg mehr und mehr und übertrug sich allmählich auch auf Goethe, gegen den ich nun mit einemmal alle möglichen Bedenken und Vorwürfe hatte. Das konnte eine schöne Audienz geben! Der Skorpion aber, wenn auch gefährlich und vielleicht in meiner nächsten Nähe versteckt, war doch vielleicht nicht so schlimm; er konnte, so schien mir, vielleicht auch Freundlichesbedeuten, es schien mir sehr möglich, daß er irgend etwas mit Molly zu tun habe, eine Art Bote von ihr sei oder ihr Wappentier, ein schönes, gefährliches Wappentier der Weiblichkeit und der Sünde. Konnte das Tier nicht vielleicht Vulpius heißen? Aber da riß ein Diener die Tür auf, ich erhob mich und ging hinein.
    Da stand der alte Goethe, klein und sehr steif, und richtig hatte er einen dicken Ordensstern auf seiner Klassikerbrust.

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