Der Steppenwolf
weiter als bloß auf Mängel und Hoffnungslosigkeiten unsrer Zeit, unsrer Geistigkeit, unsrer Kultur. Er ging bis ins Herz alles Menschentums, er sprach beredt in einereinzigen Sekunde den ganzen Zweifel eines Denkers, eines vielleicht Wissenden aus an der Würde, am Sinn des Menschenlebens überhaupt. Dieser Blick sagte: »Schau, solche Affen sind wir! Schau, so ist der Mensch!« und alle Berühmtheit, alle Gescheitheit, alle Errungenschaften des Geistes, alle Anläufe zu Erhabenheit, Größe und Dauer im Menschlichen fielen zusammen und waren ein Affenspiel!
Ich habe damit weit vorgegriffen und, eigentlich gegen meinen Plan und Willen, im Grunde schon das Wesentliche über Haller gesagt, während es ursprünglich meine Absicht war, sein Bild nur allmählich, im Erzählen meines stufenweisen Bekanntwerdens mit ihm, zu enthüllen.
Nachdem ich nun denn so vorgegriffen habe, erübrigt es sich, noch weiter über die rätselhafte »Fremdheit« Hallers zu sprechen und im einzelnen zu berichten, wie ich allmählich die Gründe und Bedeutungen dieser Fremdheit, dieser außerordentlichen und furchtbaren Vereinsamung ahnte und erkannte. Es ist besser so, denn ich möchte meine eigene Person möglichst im Hintergrunde lassen. Ich will nicht meine Bekenntnisse vortragen oder Novellen erzählen oder Psychologie treiben, sondern lediglich als Augenzeuge etwas zum Bild des eigentümlichen Mannes beitragen, der diese Steppenwolfmanuskripte hinterlassen hat.
Schon beim allerersten Anblick, als er durch die Glastür der Tante hereintrat, den Kopf so vogelartig reckte und den guten Geruch des Hauses rühmte, war mir irgendwie das Besondere an diesem Manne aufgefallen, und meine erste naive Reaktion darauf war Widerwille gewesen. Ich spürte (und meine Tante, die im Gegensatz zu mir ja ganz und gar kein intellektueller Mensch ist, spürte ziemlich genau dasselbe) – ich spürte, daß der Mann krank sei, auf irgendeine Art geistes- oder gemüts- oder charakterkrank, und wehrte mich dagegen mit dem Instinkt des Gesunden. Diese Abwehr wurde im Lauf der Zeit abgelöst durch Sympathie, beruhend auf einem großen Mitleid mit diesem tief und dauernd Leidenden, dessen Vereinsamung und inneres Sterben ich mit ansah. In dieser Periode kam mir mehr und mehr zum Bewußtsein, daß die Krankheit dieses Leidenden nicht auf irgendwelchen Mängeln seiner Natur beruhe, sondern im Gegenteil nur auf dem nicht zur Harmonie gelangten großenReichtum seiner Gaben und Kräfte. Ich erkannte, daß Haller ein Genie des Leidens sei, daß er, im Sinne mancher Aussprüche Nietzsches, in sich eine geniale, eine unbegrenzte, furchtbare Leidensfähigkeit herangebildet habe. Zugleich erkannte ich, daß nicht Weltverachtung, sondern Selbstverachtung die Basis seines Pessimismus sei, denn so schonungslos und vernichtend er von Institutionen oder Personen reden konnte, nie schloß er sich aus, immer war er selbst der erste, gegen den er seine Pfeile richtete, war er selbst der erste, den er haßte und verneinte . . .
Hier muß ich eine psychologische Anmerkung einfügen. Obgleich ich über das Leben des Steppenwolfes sehr wenig weiß, habe ich doch allen Grund zu vermuten, daß er von liebevollen, aber strengen und sehr frommen Eltern und Lehrern in jenem Sinne erzogen wurde, der das »Brechen des Willens« zur Grundlage der Erziehung macht. Dieses Vernichten der Persönlichkeit und Brechen des Willens nun war bei diesem Schüler nicht gelungen, dazu war er viel zu stark und hart, viel zu stolz und geistig. Statt seine Persönlichkeit zu vernichten, war es nur gelungen, ihn sich selbst hassen zu lehren. Gegen sich selber, gegen dies unschuldige und edle Objekt richtete er nun zeitlebens die ganze Genialität seiner Phantasie, die ganze Stärke seines Denkvermögens. Denn darin war er, trotz allem, durch und durch Christ und durch und durch Märtyrer, daß er jede Schärfe, jede Kritik, jede Bosheit, jeden Haß, dessen er fähig war, vor allem und zuerst auf sich selbst losließ. Was die anderen, was die Umwelt betraf, so machte er beständig die heldenhaftesten und ernstesten Versuche, sie zu lieben, ihnen gerecht zu werden, ihnen nicht weh zu tun, denn das »Liebe deinen Nächsten« war ihm ebenso tief eingebläut wie das Hassen seiner selbst, und so war sein ganzes Leben ein Beispiel dafür, daß ohne Liebe zu sich selbst auch die Nächstenliebe unmöglich ist, daß der Selbsthaß genau dasselbe ist und am Ende genau dieselbe grausige Isoliertheit und Verzweiflung
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