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Der Steppenwolf

Der Steppenwolf

Titel: Der Steppenwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Novalis gefunden, darf ich Ihnen den zeigen? Sie werden auch Freude daran haben.«
    Er nahm mich mit in sein Zimmer, wo es stark nach Tabak roch, zog ein Buch aus einem der Haufen heraus, blätterte, suchte – »Auch das ist gut, sehr gut«, sagte er, »hören Sie einmal den Satz: ›Man sollte stolz auf den Schmerz sein – jeder Schmerz ist eine Erinnerung unsres hohen Ranges.‹ Fein! Achtzig Jahre vor Nietzsche! Aber das ist nicht der Spruch, den ich meinte – warten Sie – da habe ich ihn. Also: ›Die meisten Menschen wollen nicht eher schwimmen, als bis sie es können.‹ Ist das nicht witzig? Natürlich wollen sie nicht schwimmen! Sie sind ja für den Boden geboren, nicht fürs Wasser. Und natürlich wollen sie nicht denken; sie sind ja fürs Leben geschaffen, nicht fürs Denken! Ja, und wer denkt, wer das Denken zur Hauptsache macht,der kann es darin zwar weit bringen, aber er hat doch eben den Boden mit dem Wasser vertauscht, und einmal wird er ersaufen.«
    Er hatte mich nun eingefangen und interessiert, und ich blieb eine kleine Weile bei ihm, und von da an kam es nicht selten vor, daß wir auf der Treppe oder auf der Straße, wenn wir uns trafen, ein wenig miteinander sprachen. Dabei hatte ich im Anfang, ebenso wie bei der Araukarie, immer ein wenig das Gefühl, daß er mich ironisiere. Aber es war nicht so. Er hatte vor mir, wie vor der Araukarie, geradezu Hochachtung, er war von seiner Vereinsamung, seinem Schwimmen im Wasser, seiner Entwurzelung so bewußt überzeugt, daß tatsächlich und ohne jeden Hohn zuweilen der Anblick einer alltäglichen bürgerlichen Handlung, die Pünktlichkeit zum Beispiel, mit der ich zu meinen Bürostunden ging, oder der Ausspruch eines Dienstboten oder Trambahnschaffners, ihn begeistern konnte. Zuerst erschien mir das recht lächerlich und übertrieben, so eine Herren- und Bummlerlaune, eine spielerische Sentimentalität. Aber mehr und mehr mußte ich sehen, daß er in der Tat unsre kleine bürgerliche Welt aus seinem luftleeren Raume, aus seiner Fremdheit und Steppenwolfigkeit heraus geradezu bewunderte und liebte, als das Feste und Sichere, als das ihm Ferne und Unerreichbare, als die Heimat und den Frieden, zu denen ihm kein Weg gebahnt war. Er zog vor unsrer Zugängerin, einer braven Frau, den Hut jedesmal mit einer wahren Ehrfurcht, und wenn meine Tante sich einmal mit ihm ein wenig unterhielt oder ihn auf eine Reparaturbedürftigkeit an seiner Wäsche, auf einen hängenden Knopf an seinem Mantel aufmerksam machte, dann hörte er mit einer merkwürdigen Aufmerksamkeit und Wichtigkeit zu, als gäbe er sich eine unsägliche und hoffnungslose Mühe, durch irgendeinen Spalt in diese kleine, friedliche Welt einzudringen und dort heimisch zu werden, sei es auch nur für eine Stunde. Schon bei jenem ersten Gespräch, bei der Araukarie, nannte er sich den Steppenwolf, und auch dies befremdete und störte mich ein wenig. Was waren das für Ausdrücke?! Aber ich lernte den Ausdruck nicht nur durch Gewöhnung gelten zu lassen, sondern bald nannte ich den Mann bei mir selbst, in meinen Gedanken, nie mehr anders als den Steppenwolf und wüßte auch heute noch kein treffenderes Wort für diese Erscheinung. Ein zuuns, in die Städte und ins Herdenleben verirrter Steppenwolf – schlagender konnte kein andres Bild ihn zeigen, seine scheue Vereinsamung, seine Wildheit, seine Unruhe, sein Heimweh und seine Heimatlosigkeit.
    Einmal konnte ich ihn einen ganzen Abend lang beobachten, in einem Symphoniekonzert, wo ich ihn zu meiner Überraschung in meiner Nähe sitzen sah, ohne daß er mich bemerkte. Erst wurde Händel gespielt, eine edle und schöne Musik, aber der Steppenwolf saß in sich versunken und ohne Anschluß, weder an die Musik noch an seine Umgebung. Unzugehörig, einsam und fremd saß er, mit einem kühlen, aber sorgenvollen Gesicht vor sich niederblickend. Dann kam ein anderes Stück, eine kleine Symphonie von Friedemann Bach, und da war ich ganz erstaunt zu sehen, wie nach wenigen Takten mein Fremdling anfing zu lächeln und sich hinzugeben, er sank ganz in sich hinein und sah, wohl zehn Minuten lang, so glücklich versunken und in gute Träume verloren aus, daß ich mehr auf ihn als auf die Musik achtete. Als das Stück zu Ende war, erwachte er, setzte sich gerader, machte Miene aufzustehen und schien gehen zu wollen, blieb dann aber doch sitzen und hörte auch das letzte Stück noch an, es waren Variationen von Reger, eine Musik, die von vielen als etwas lang und

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