Der Steppenwolf
kluge Aufbauer aus den Gestalten, deren jede ein Stück meiner selbst war, ein Spiel ums andre auf, alle einander von ferne ähnlich, alle erkennbar als derselben Welt angehörig, derselben Herkunft verpflichtet, dennoch jedes völlig neu.
»Dies ist Lebenskunst«, sprach er dozierend. »Sie selbst mögen künftig das Spiel Ihres Lebens beliebig weitergestalten und beleben, verwickeln und bereichern, es liegt in Ihrer Hand. So wie die Verrücktheit, in einem höhern Sinn, der Anfang aller Weisheitist, so ist Schizophrenie der Anfang aller Kunst, aller Phantasie. Sogar Gelehrte haben dies schon halb erkannt, wie man zum Beispiel in des Prinzen Wunderhorn nachlesen mag, jenem entzückenden Buch, in welchem die mühevolle und fleißige Arbeit eines Gelehrten durch die geniale Mitarbeit einer Anzahl von verrückten und in Anstalten eingesperrten Künstlern geadelt wird. – Hier, stecken Sie Ihre Figürchen nur zu sich, das Spiel wird Ihnen noch oft Freude machen. Sie werden die Figur, die heute sich zum unerträglichen Popanz ausgewachsen hat und ihnen das Spiel verdirbt, morgen zur harmlosen Nebenfigur degradieren. Sie werden das arme liebe Figürchen, das eine Weile zu lauter Pech und Unstern verurteilt schien, im nächsten Spiel zur Prinzessin machen. Ich wünsche viel Vergnügen, mein Herr.«
Ich verbeugte mich tief und dankbar vor diesem begabten Schachspieler, steckte die Figürchen in meine Tasche und zog mich durch die schmale Türe zurück.
Eigentlich hatte ich mir gedacht, ich würde nun alsbald im Korridor mich an den Boden setzen und stundenlang, eine Ewigkeit lang, mit den Figuren spielen, aber kaum stand ich wieder in dem hellen runden Theatergang, so zogen neue Strömungen, stärker als ich, mich davon. Ein Plakat flammte grell vor meinen Augen auf:
Wunder der Steppenwolfdressur
Vielerlei Gefühle regte diese Inschrift in mir auf; allerlei Ängste und Zwänge aus meinem gewesenen Leben, aus der verlassenen Wirklichkeit her, zogen mir peinlich das Herz zusammen. Mit bebender Hand öffnete ich die Türe und kam in eine Jahrmarktbude, darin sah ich ein Eisengitter errichtet, das mich von der dürftigen Schaubühne trennte. Auf der Bühne aber sah ich einen Tierbändiger stehen, einen etwas marktschreierisch aussehenden und wichtigtuenden Herrn, der trotz großen Schnauzbarts, trotz muskelstrotzenden Oberarms und geckenhafter Zirkuskleidung mir selbst auf eine hämische, recht widerwärtige Weise ähnlich sah. Dieser starke Mann führte – jämmerlicher Anblick! – einen großen, schönen, aber furchtbar abgemagerten und sklavisch-scheu blickenden Wolf an der Leine wie einen Hund. Undes war nun ebenso ekelhaft wie spannend, ebenso scheußlich wie dennoch heimlich-lustvoll, diesen brutalen Bändiger das edle und doch so schmächlich gehorsame Raubtier in einer Reihe von Tricks und sensationellen Szenen vorführen zu sehen.
Der Mann, mein verfluchter Zerrspiegelzwilling, hatte seinen Wolf allerdings fabelhaft gezähmt. Der Wolf gehorchte aufmerksam jedem Befehl, reagierte hündisch auf jeden Zuruf und Peitschenknall, er fiel in die Knie, stellte sich tot, machte das Männchen, er trug einen Brotlaib, ein Ei, ein Stück Fleisch, ein Körbchen folgsam und artig in der Schnauze, ja er mußte dem Bändiger die Peitsche, die dieser hatte fallen lassen, aufheben und im Maule nachtragen, wozu er unerträglich kriecherisch mit dem Schwanze wedelte. Es wurde dem Wolf ein Kaninchen vorgeführt und dann ein weißes Lamm, und er bleckte zwar die Zähne und ließ den Speichel tropfen vor zitternder Begierde, berührte aber keines der Tiere, sondern sprang auf Befehl über sie, die bebend am Boden kauerten, in elegantem Schwung hinweg, ja, er legte sich zwischen Hase und Lamm nieder, umarmte beide mit den Vorderpfoten und bildete mit ihnen eine rührende Familiengruppe. Dazu fraß er aus des Menschen Hand eine Tafel Schokolade. Es war eine Qual mitanzusehen, bis zu welch phantastischem Grade dieser Wolf seine Natur hatte verleugnen lernen, und mir standen dabei die Haare zu Berg.
Für diese Qual wurde jedoch der erregte Zuschauer im zweiten Teil der Vorführung, ebenso wie der Wolf selbst, entschädigt. Nach Abwickelung jenes raffinierten Dressurprogramms nämlich und nachdem der Bändiger über der Lamm- und Wolfgruppe sich triumphierend mit süßem Lächeln verbeugt hatte, wurden die Rollen vertauscht. Der harryähnliche Tierbändiger legte plötzlich seine Peitsche mit tiefem Bückling dem Wolfe zu Füßen und
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