Der Steppenwolf
bitter! Ich spuckte den Harry im Spiegel an, ich trat mit dem Fuß gegen ihn und trat ihn in Scherben. Langsam ging ich durch den hallenden Gang, aufmerksam betrachtete ich die Türen, die soviel Hübsches versprochen hatten: an keiner mehr stand eine Inschrift. Langsam schritt ich alle die hundert Türen des magischen Theaters ab. War ich nicht heute an einem Maskenball gewesen? Hundert Jahre waren seither vergangen. Bald wird es keine Jahre mehr geben. Etwas war noch zu tun. Hermine wartete noch. Eine sonderbare Hochzeit würde das sein. In einer trüben Welle schwamm ich dahin, trüb gezogen, Sklave, Steppenwolf. Pfui Teufel!
An der letzten Tür blieb ich stehen. Dorthin hatte die trübe Welle mich gezogen. O Rosa, o ferne Jugend, o Goethe und Mozart!
Ich öffnete. Was ich hinter der Türe fand, war ein einfaches und schönes Bild. Auf Teppichen am Boden fand ich zwei nackte Menschen liegen, die schöne Hermine und den schönen Pablo, Seite an Seite, tief schlafend, tief erschöpft vom Liebesspiel, das so unersättlich scheint und doch so schnell satt macht. Schöne,schöne Menschen, herrliche Bilder, wundervolle Körper. Unter Herminens linker Brust war ein frisches rundes Mal, dunkel unterlaufen, ein Liebesbiß von Pablos schönen schimmernden Zähnen. Dort, wo das Mal saß, stieß ich mein Messer hinein, so lang die Klinge war. Blut lief über Herminens weiße zarte Haut. Dies Blut hätte ich weggeküßt, wenn alles etwas anders gewesen, etwas anders gegangen wäre. Nun tat ich es nicht; ich sah nur zu, wie das Blut lief, und sah ihre Augen sich eine kleine Weile öffnen, schmerzvoll, tief verwundert. »Warum ist sie verwundert?« dachte ich. Dann dachte ich daran, daß ich ihr die Augen zudrücken müsse. Aber sie schlossen sich von selbst wieder. Es war getan. Sie drehte sich nur ein wenig auf die Seite, von der Achselhöhle zur Brust sah ich einen feinen zarten Schatten spielen, der wollte mich an irgend etwas erinnern. Vergessen! Dann lag sie still.
Lange sah ich sie an. Endlich schauerte ich wie erwachend auf und wollte gehen. Da sah ich Pablo sich dehnen, sah ihn die Augen öffnen und die Glieder recken, sah ihn sich über die schöne Tote beugen und lächeln. Nie wird dieser Kerl ernsthaft werden, dachte ich, alles bringt ihn zum Lächeln. Behutsam schlug Pablo eine Ecke des Teppichs um und deckte Hermine zu bis zur Brust, daß die Wunde nicht mehr zu sehen war, und ging dann unhörbar aus der Loge. Wo ging er hin? Ließen alle mich allein? Ich blieb, allein mit der halbverhüllten Toten, die ich liebte und beneidete. Über ihre bleiche Stirn hing die Knabenlocke herab, der Mund strahlte rot aus dem ganz erblaßten Gesicht und war ein wenig geöffnet, ihr Haar duftete zart und ließ das kleine, reich geformte Ohr halb durchschimmern.
Nun war ihr Wunsch erfüllt. Noch eh sie ganz mein geworden war, hatte ich meine Geliebte getötet. Ich hatte das Unausdenkliche getan, und nun kniete ich und starrte und wußte nicht, was diese Tat bedeutet, wußte nicht einmal, ob sie gut und richtig gewesen sei oder das Gegenteil. Was würde der kluge Schachspieler, was würde Pablo zu ihr sagen? Ich wußte nichts, ich konnte nicht denken. Immer roter glühte der gemalte Mund aus dem erlöschenden Gesicht. So war mein ganzes Leben gewesen, so war mein bißchen Glück und Liebe gewesen wie dieser starre Mund: ein wenig Rot, auf ein Totengesicht gemalt.
Und von dem toten Gesicht, den toten weißen Schultern, den toten weißen Armen hauchte, langsam schleichend, ein Schauder aus, eine winterliche Öde und Einsamkeit, eine langsam, langsam wachsende Kälte, in der mir Hände und Lippen zu erstarren begannen. Hatte ich die Sonne ausgelöscht? Hatte ich das Herz alles Lebens getötet? Brach die Todeskälte des Weltraums herein?
Schaudernd starrte ich auf die steingewordene Stirn, auf die starre Locke, auf den bleichkühlen Schimmer der Ohrmuschel. Die Kälte, die von ihnen ausströmte, war tödlich und war dennoch schön: sie klang, sie schwang wunderbar, sie war Musik! Hatte ich nicht einst, in einer frühern Zeit, schon einmal diesen Schauder gefühlt, der zugleich etwas wie Glück war? Hatte ich nicht schon einmal diese Musik vernommen? Ja, bei Mozart, bei den Unsterblichen.
Verse kamen mir in den Sinn, die ich einst, in einer frühern Zeit, irgendwo gefunden hatte:
»Wir dagegen haben uns gefunden,
In des Äthers sterndurchglänztem Eis,
Kennen keine Tage, keine Stunden,
Sind nicht Mann noch Weib, nicht jung noch
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