Der Stern von Yucatan
mich ist alles noch so schmerzlich. Ich brauche Zeit, mich zu erholen und mich an die neue Situation zu gewöhnen.”
“Hast du dich entschlossen, das Haus zu verkaufen?”, fragte Gary.
Lorraine verstand nicht, warum sich alle Welt Sorgen um das Haus machte. “Ich … ich weiß es noch nicht.”
“Es wäre durchaus sinnvoll, es zum Verkauf anzubieten, findest du nicht?”
Sie schloss die Augen und suchte nach Antworten. “Ich kann solche Entscheidungen jetzt nicht treffen. Gib mir ein bisschen Zeit!”
Sie musste ungeduldig geklungen haben, denn Gary war sofort zerknirscht.
“Du hast recht, Darling, es ist zu früh. Wir werden uns später damit befassen. Versprich mir, dass du mich anrufst, wenn du mich brauchst.”
“Versprochen”, flüsterte sie.
Nach einigen Abschiedsworten beendete sie das Telefonat. Als sie den Hörer auflegte, fiel ihr Blick auf den Radiowecker. Verblüfft bemerkte sie, dass es erst neun war. Ihr kam es vor wie Mitternacht. Sie legte sich wieder hin, starrte gegen die Decke und ließ ihre Gedanken in die Zukunft wandern. Ihre Mutter würde nicht auf der Hochzeit sein und die Geburt ihrer Enkel nicht erleben. Virginia Dancy hatte sich sehr darauf gefreut, Großmutter zu werden.
Anstatt sich weiter mit ihrem Verlust zu befassen, dachte sie an Garys unerwarteten Anruf. Gary hatte nicht unrecht, das Haus war ein Problem. Falls es längere Zeit leer stand, würde es langsam verfallen. Ganz zu schweigen davon, dass leer stehende Häuser Vandalen anzogen. Sie würde bald eine Entscheidung treffen müssen, auch über finanzielle und rechtliche Angelegenheiten. Allerdings hatte sie das Testament ihrer Mutter noch nicht einmal gesehen.
Immer eines nach dem anderen, sagte sie sich. Diesen Rat hatte ihr die Mutter schon in der Kindheit gegeben, und sie war immer gut damit gefahren.
Der Anruf von Dennis Goodwin, dem Anwalt ihrer Mutter, kam, als Lorraine bereits wieder zur Arbeit ging. Sie hatte erwartet, von ihm zu hören. Dennis hatte ihr auf dem Friedhof angekündigt, es seien einige rechtliche Dinge zu klären, und er würde sich melden. Sie nähmen jedoch kaum fünfzehn, zwanzig Minuten ihrer Zeit in Anspruch. Er hatte vorgeschlagen, sich wegen der Terminabsprache zu verständigen, und sein Anruf kam genau eine Woche nach der Beerdigung.
Lorraine erschien zur verabredeten Zeit, um die Einzelheiten aus dem Testament ihrer Mutter zu hören. Die Empfangssekretärin begrüßte sie freundlich und drückte dann den Knopf der Sprechanlage. “Lorraine Dancy ist hier”, kündigte sie an.
Einen Moment später erschien Dennis Goodwin im Vorzimmer. “Lorraine”, grüßte er herzlich, “schön, Sie zu sehen.” Er führte sie in sein Büro.
Lorraine wusste, dass ihre Mutter Dennis gemocht und ihm absolut vertraut hatte. Sie hatten in Louisville im selben Gebäude gearbeitet. Während dieser Zeit hatte er als ihr Vertragsanwalt gearbeitet, ihr Testament aufgenommen und sie in anderen rechtlichen Belangen vertreten.
“Setzen Sie sich”, forderte er sie auf. “Wie geht es Ihnen unter diesen Umständen?”
“Etwa so, wie man es erwarten kann”, erwiderte sie. Sie fand es nicht mehr nötig, den eigenen Kummer zu verbergen, um andere zu trösten. Die letzte Woche war sehr schwierig für sie gewesen. Ohne Garys Unterstützung hätte sie sie kaum ertragen.
“Wie Sie ja wissen”, begann der Anwalt und beugte sich zu ihr vor, “kannte ich Ihre Mutter bereits etliche Jahre. Sie war eine der talentiertesten Börsenmaklerinnen, die mir begegnet sind. In den Achtzigern empfahl sie mir den Kauf von Aktien einer kleinen Firma in Seattle namens Microsoft. Wegen dieses Tipps werde ich mich in einigen Jahren vorzeitig aus dem Beruf zurückziehen können. Allein von dieser Investition kann ich leben.”
“Mom liebte ihre Arbeit.”
“Sie hat selbst sehr klug investiert”, fügte er hinzu. “Um Ihre Finanzen müssen Sie sich für lange Jahre keine Gedanken machen.”
Diese Mitteilung hätte sie aufheitern müssen, doch sie hätte lieber ihre Mutter zurückgehabt. Keine noch so große finanzielle Sicherheit konnte ihr ersetzen, was sie verloren hatte. Die Hände im Schoß gefaltet, wartete sie, dass er fortfuhr.
“Vor vier Jahren kam Ihre Mutter zu mir und bat mich, ihr Testament aufzusetzen.” Dennis rollte mit seinem Sessel vom Schreibtisch weg und langte nach einer Akte. “Nach den testamentarischen Bestimmungen sind Sie ihre einzige Erbin. Unser Treffen wäre unter normalen Umständen
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