Der stille Ozean
so groß und fleischig, daß sie Ascher als erstes aufgefallen waren. Die Haare waren glatt nach hinten frisiert, ein Hemdkragen hing aus dem Pullover. »Im Augenblick müssen wir mit allem rechnen«, sagte er. Ascher nahm im beleuchteten Gastraum Platz. Da die Balken geschlossen waren, kam es ihm wie am Abend vor. Gelbe Bürostühle standen um Tische mit Plastikplatten und großen Aschenbechern. An einem der Tische saßen ein paar Männer, neben der Tür lag ein Gewehr mit einem Zielfernrohr. Ascher schaute dem Wirt zu, wie er an der Theke, die von einer Neonröhre angestrahlt wurde, Wein einschenkte.
»Möglicherweise hat er die Tollwut«, sagte einer der Männer. »Es könnte sein, daß er sie hat, ohne daß man es weiß. Wenn er vor der Tür steht, ist es besser, eine Waffe griffbereit zu haben.« Der Wirt servierte die Gläser und fragte Ascher nach seinem Wunsch. Er brachte das Bier für ihn jedoch an den Tisch, um den die anderen saßen. »Setzen Sie sich zu uns«, sagte er. Inzwischen hatten die Männer weiter über die Tollwut gesprochen. Ascher wechselte den Platz. Von den Männern kannte er niemanden. Sie waren zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt, und da es Winter war, hatten sie Zeit, den Fall zu besprechen. Außerdem, so entnahm Ascher ihren Gesprächen, war auf jedem ihrer Höfe ein Sohn oder Bruder oder Vater zu Hause, so daß die Frauen nicht allein waren. Aber sie hatten trotzdem keine Ruhe, länger sitzenzubleiben. Einer von ihnen erzählte, daß Lüscher, bevor er den ersten erschossen hatte, einem Landwirt begegnet sei, der in der Nähe des Gasthauses wohnte. Er habe Lüscher nach der Ursache seines blutigen Gesichts gefragt, daraufhin habe er ihn mit dem Gewehr bedroht und ihm befohlen, im Haus zu verschwinden. Der Landwirt habe den Anordnungen gehorcht und sich sofort zurückgezogen. Als er sich wieder aus dem Haus getraut habe, sei das Verbrechen schon geschehen gewesen. Wenig später habe sich ein anderer Landwirt namens Schwarz, dem Lüscher begegnet sei, erkundigt, was er mit den Gewehren vorhabe. Lüscher habe geantwortet, er würde Egger erschießen. Weil er tatsächlich entschlossen in die Richtung gegangen sei, in der sich Eggers Hof befunden habe, und weil Schwarz überdies gewußt habe, daß Egger im Prozeß um das Reitpferd für Herbst Partei ergriffen habe, habe er sich überlegt, was er tun solle. Egger warnen? Die Gendarmerie verständigen? Er habe über kein Telefon verfügt, darum habe er nicht sofort gehandelt. Als er sich entschieden hätte, Egger zu warnen, sei es schon zu spät gewesen. Ein anderer erzählte, daß Schwarz etwas später als die beiden Gendarmen zum Hof gekommen sei. Einer der Gendarmen hätte gerade den Hof gestürmt und die Leichen gefunden. Als dieser Gendarm einen Warnschuß abgegeben habe, denn er hätte Lüscher noch im Haus vermutet, sei Schwarz dem zweiten Gendarmen begegnet und habe ihm von Lüschers Drohung berichtet. Der Gendarm sei noch im Auto gesessen, ihm sei wegen einer Herzschwäche übel gewesen. Dann erzählte der Wirt, daß Lüscher nach dem zweiten Mord zwei weiteren Ortsbewohnern begegnet sei, die wegen seiner Drohung das letzte Vereinsmitglied telefonisch gewarnt hätten, damit es mit seiner Familie habe fliehen können. Die Meinung ging auseinander, ob Lüscher nur die Männer habe töten oder die Familien ausrotten wollen. Schließlich habe er ja auch die Frau des einen erschossen, während er die kleinen Kinder und die Frau des anderen verschont hätte. Jemand wußte als Einwand, daß Herbsts Frau, als Lüscher ihren Mann erschossen habe, in Ohnmacht gefallen sei. Das habe ein Gendarm zu berichten gewußt. Ascher trank das Bier und hörte zu. Das Bier war eiskalt und schmeckte ihm. Die Meinung ging gerade auseinander, zu welchem Zeitpunkt Lüscher den Gendarmen begegnet war: Bevor Lüscher Egger und seine Frau erschossen habe? Nachher? – Es klopfte, worauf die Gespräche abbrachen und der Wirt das Gewehr, das neben der versperrten Eingangstür lag, in die Hand nahm. Es war jedoch der Bestatter aus Maltschach, der seinen Wagen auftanken wollte. Die Tankstelle und das Kaufhaus wurden beide vom Wirt betrieben. Sie waren versperrt gewesen, deshalb hatte der Bestatter im Gasthaus geklopft. Er machte auf Ascher einen furchtlosen Eindruck. Eine Locke war in seine Stirn gefallen, seine Krawatte war verrutscht, der Mantel geöffnet. »Ich habe gehört, Sie sind Arzt«, sagte er, als er Ascher erblickte. Er kniff dabei die Augenbrauen
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