Der stille Ozean
war. »Sind Sie Journalist?« fragte er mißtrauisch. Ascher verneinte. »Gut«, sagte der Gendarm. »Journalisten haben keinen Zutritt.« Er schien sogar ein wenig stolz zu sein über das, was vorgefallen war. »Wir wissen noch nicht genau, wie es vor sich gegangen ist«, sagte er. »Entweder hat er zuerst den Mann im Keller erschossen und dann die Frau oder umgekehrt. Die einen glauben, er hat die Frau« – er wartete, bis Ascher einen Blick auf die Tote warf – »über den Hof gehen sehen und gleich geschossen, die anderen, daß er den Mann im Weinkeller erschossen hat« – jetzt wies er auf den Weinkeller – »und daß die Frau durch den Schuß herbeigeeilt ist und ihn hat aufhalten wollen. Wahrscheinlich trifft das zweite zu. Denn warum hat er nicht auch dem anderen seine Frau und die Kinder erschossen?«
»Kommen Sie«, sagte er nach einer Pause, in der er Ascher aufgefordert hatte, wieder die Tote anzusehen. Er ging mit schweren Schritten voraus, an der Toten vorbei, ohne sie zu beachten.
Vor das Gebäude war Schatten gefallen, der Schnee schmolz dort noch nicht. Jetzt bemerkte Ascher, daß die Balken noch geöffnet waren, das sah freundlich aus. Wahrscheinlich aber, dachte er, gab es hier niemanden, der sich versteckte. Der Keller war von einer Glühbirne beleuchtet. Ascher mußte hinter dem Gendarmen zwei Stufen hinuntersteigen, dann stand er in dem kleinen, weißgekalkten Raum. Vor ihnen auf dem Boden lag ein Mann auf dem Rücken. Er trug Gummistiefel, eine blaue Latzhose, einen Pullover und eine blaue Arbeitsjacke. Man hatte ihn offensichtlich ein kleines Stück zur Seite gedreht, denn neben ihm auf dem Beton des Kellerbodens waren mit Kreide die Umrisse der Beine und Füße und eines Armes gezeichnet. Das gab ihm etwas puppenhaft Unwirkliches. Vom Eingang aus konnte Ascher nur etwas Blut auf der Wand erkennen und ein kleines Loch, das mit Bleistift umrundet war, wahrscheinlich war es der Einschuß. Der Gendarm war seinem Blick gefolgt und sagte: »Hier ist das Geschoß wieder aus dem Körper ausgetreten und im Verputz steckengeblieben.« Die rechte Seite war durch hohe Weinfässer verdeckt, davor waren ein paar große, fünf oder zehn Liter fassende, gefüllte Weinflaschen abgestellt. An der Hinterwand führten eiserne Leitungen zu einer Pumpe, auf den Leitungen waren Wasserhähne und Armaturen angebracht, an einigen Stellen waren sie mit Schläuchen verbunden. Darüber hingen gläserne Weinheber und eine Flasche mit einem gläsernen Ansaugstutzen sowie ein Brett mit Holzstiften, wahrscheinlich zum Gläsertrocknen. Wieder betrachtete Ascher alles mit großer Aufmerksamkeit.
Über Lüscher fing der Gendarm inzwischen folgendes zu erzählen an: (Diesmal wies er im Kellerraum auf die Schauplätze, von denen er gerade sprach.) Lüscher sei vierzig Jahre verheiratet und Vater von drei Kindern. Vor einigen Jahren hätten vier Landwirte einen Reitstall gegründet. Sie seien ungefähr gleich alt gewesen, hätten alle zwei oder drei Kinder gehabt. Lüscher habe als einziger keine Funktion im Verein gehabt: Herbst sei Obmann gewesen, Egger, so heiße der Tote, der Stellvertreter und das dritte Gründungsmitglied Kassierer. Dieser sei übrigens inzwischen mit der. Frau und den Kindern geflohen und komme erst zurück, wenn Lüscher gefaßt sei. Als Lüscher nach einem Streit sein Pferd verkauft habe, habe er dennoch im Reitklub weitergearbeitet. Vor kurzer Zeit habe er jedoch sein Geld zurückhaben wollen und durch einen Anwalt eine Klage eingereicht. Doch der Prozeß sei für ihn schlecht ausgegangen. Er habe keine Entschädigung für den neuen Zaun an der Pferdekoppel, den er mitfinanziert habe, sowie für die von ihm im Stall geleistete Arbeit erhalten.
Er zuckte die Schultern und zog die Mundwinkel nach unten, so als wollte er zugleich seine Verachtung ausdrücken und zeigen, daß er nichts damit zu tun hatte. Dann dachte er nach. Er sprach hierauf vorsichtig, Ascher hatte den Eindruck, daß er bemüht war, die Wahrheit zu sagen. Vielleicht würde er vor Gericht so sprechen, wenn von seiner Aussage etwas abhing. Allgemein sei man der Meinung gewesen, daß Lüscher von seinen Kompagnons finanziell übervorteilt worden sei, sagte er stockend. Lüscher habe den Prozeßausgang nicht überwunden. Er sei ein rechts- und ordnungsgläubiger Mensch. Wieder machte er eine Pause. In einem gewissen Sinne habe er sogar ein vorbildliches Leben geführt, fuhr er nachdenklich fort. Deshalb habe man sich auch über den
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