Der stille Ozean
einen menschenleeren Hof mit Bäumen und Kieselsteinen. Nur vor dem Gebäude parkte auf dem Gehsteig ein großer Autobus. Zwei Gendarmen standen dort. Als Ascher näher kam, hörte er Schulkinder aus dem Gebäude singen. Er wurde von einem Mann angesprochen, den er nicht sogleich wiedererkannte. Es war der Mann, den er bei der Aufbahrung gesehen hatte.
Ascher bemerkte, daß er betrunken war. »Sie lassen die Kinder erst heraus, wenn die Wege abgesichert sind«, sagte er ohne Umschweife. »Eventuell kommt er zurück und nimmt ein Kind als Geisel.« Er blickte Ascher schläfrig an. Wahrscheinlich hatte er die Toten schon gesehen. Ascher wollte ihn nicht danach fragen. Er hatte auch keine Lust, mit ihm darüber zu reden, und so nickte er nur.
»Sie können mit den Kindern jetzt herauskommen«, rief einer der Gendarmen. Daraufhin hörte der Gesang auf. Der Mann erklärte ihm, daß das alte Gebäude die Sonderschule, das neue die Volksschule sei, gab ihm die Hand und sagte: »Ich muß jetzt fahren, auf Wiedersehen.« Der Chauffeur warf den Motor an, wendete und öffnete die Tür. Dann liefen die Kinder in Zweierreihen aus der Schule, und zwei junge Lehrerinnen, eine in einem Trainingsanzug, achteten darauf, daß sie Ordnung hielten. Alles ging sehr rasch. »Es ist der letzte Bus«, sagte einer der Gendarmen. Der andere hatte es nicht gehört. Er hielt das Gewehr in den Händen und schaute sich um. Ascher sah nun auch den Direktor am Schultor, einen kleinen Mann, der sich überzeugte, daß keine Pannen entstünden. Er hielt die Arme hinter dem Rücken verschränkt und spazierte, die Kinder nicht aus den Augen lassend, unruhig auf und ab. Als die Kinder im Bus saßen, stiegen die Gendarmen zu, einer setzte sich neben den Fahrer, und der Mann, der mit ihm gesprochen hatte, nahm zwischen den Kindern Platz, winkte heraus und der Bus fuhr davon. Die Kinder hatten nicht ängstlich gewirkt. Vermutlich hatte sich nur die Aufregung der Erwachsenen auf sie übertragen, ohne daß sie eine wirkliche Gefahr begriffen. Die Lehrerin und der Direktor waren wieder in der Schule verschwunden, das große Schultor war geschlossen. Eine Weile vernahm Ascher nur das Brummen des Busses, sonst war es still. Er ging zurück zur Bundesstraße, auf der er niemandem mehr begegnete. Zuerst kam er an der Kirche vorbei, dann an den beiden Gasthäusern. An einer Tür hing ein Schild: Geschlossen! – Er hob den Kopf, aber auch im ersten Stockwerk ließ sich niemand blicken. Die Tankstelle hinter dem Rüsthaus war außer Betrieb, die Zapfsäulen waren versperrt, in der Auslage des Häuschens türmten sich gelbe Dosen mit Motoröl. Ein Stück weiter, gegenüber dem Raiffeisenkassengebäude, befand sich der Friedhof, dahinter das Gemeindegebäude. Im Friedhof waren die Gräber und Wege verschneit, die Grabsteine ragten mit dünnen Schneekapuzen aus dem Weiß. Er hörte in der Ferne das Geräusch eines Hubschraubers, und als er danach ausschaute, sah er ihn tatsächlich über der grauen Linie des Waldes verschwinden. Dahinter lag Jugoslawien. Die Gendarmen durchkämmten mit den Hunden dort das Waldstück, es mußten etwa vierzig sein, wenn er richtig geschätzt hatte. Als er die Raiffeisenkasse erreichte, fiel polternd Schnee vom Dach des Gemeindeamtes auf die Straße. Die Bäume auf den Äckern waren nun nicht mehr verschneit, sondern standen schwarz wie Buchstaben auf Papier in der Landschaft. Hinter den Häusern floß die Saggau im verschneiten Graben. Weiter hinten auf den flachen Feldern konnte er einen großen Erdhaufen, der von Schnee bedeckt war, und einen Bagger zum Ausheben des Flusses erkennen. So weit waren die Arbeiter beim Flußregulieren im Herbst gekommen. Die Gendarmen waren nun fast alle aufgebrochen, die letzten hielten sich vermutlich in den Häusern auf, in denen die Verbrechen geschehen waren. Er stieg die Treppe, die zum Gasthaus führte, hinauf. Sofort, als er geklopft hatte, fragte eine laute Stimme von innen, wer er sei und was er wolle. Ein großes, rundes blaues Leuchtschild, das an einer Stahlstange befestigt war, machte in altmodischer Schrift Reklame für ›Puntigamer Bier‹. Ascher antwortete, er wolle etwas trinken und sich ausruhen.
Die Tür wurde daraufhin geöffnet und hinter ihm versperrt.
»Wir müssen vorsichtig sein«, sagte ein dunkelhaariger, großer und kräftiger Mann in einem Pullover. »Wir haben uns erst überzeugt, daß Sie allein sind.« Er hatte ein rotes Gesicht und kleine Augen, aber seine Ohren waren
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