Der Strandlaeufer
bereits der Sturm persönlich?«
Weder Celli noch mir fiel ein Gegenargument ein. Also tranken wir stumm unsere Gläser aus.
Später stand ich vor der großen Glastür des Kinos und musterte den Besucherstrom, der es verließ. Carla war eine der Letzten. Sie war schwarz gekleidet, und sie trug einen Schleier, als käme sie von einer Beerdigung. Als sie mich bemerkte, kam sie auf mich zu. Sie blieb direkt vor mir stehen und musterte mich prüfend. Plötzlich schlang sie ihre Arme um meinen Hals. Ihre Wangen waren nass von Tränen. »Die Ärmste«, flüsterte sie. »Ist es nicht schrecklich? Sie hat zu sehr geliebt.«
»Du meinst Silvana Mangano?«
»Ja, ich meine Silvana.«
Ich entsann mich dunkel an den Film, den ich als Jugendlicher gesehen hatte, und mir fiel eine Szene vom Schluss wieder ein. »Sie begeht Selbstmord. Sie stürzt sich in die Tiefe und liegt tot auf dem Pflaster, die Arme ausgebreitet wie Schwingen eines toten Vogels.«
»Das hast du schön gesagt.«
Sie hakte mich unter. Ich brachte sie nach Hause. Irgendwann gingen wir Hand in Hand, geschoben von den Windböen, die ins Tal einfielen. Als wir die beiden Häuser, das neue und das alte, erreichten, sprang die Gartenbeleuchtung automatisch an. Unter einem vom Wind bewegten Olivenbaum küsste mich Carla.
»Sehe ich dich morgen?«, fragte ich. »Lass mir Zeit«, sagte sie und verschwand im Hausflur. Ich kam mir vor wie in einem schlechten Liebesfilm. Mit klopfendem Herzen betrat ich Ugos altes Haus und ging auf mein Zimmer.
Am nächsten Tag ging ich zum Turm. Ich hatte mein altes Radio dabei. Als ich die Tür aufschloss und den dunklen Raum betrat, roch ich den fremden, süßlichscharfen Geruch von Ölfarbe und Terpentin. »Carla!«, rief ich. »Bist du hier?« Keine Antwort. Nur das monotone Dröhnen der Wogenmusik.
Ich sah mich um. Im dämmrigen Licht, das durch eine der Schießscharten fiel, sah ich, was sich verändert hatte. Mitten im Raum stand eine Staffelei mit dem fast fertigen Bild von Ugos Garten. Daneben auf einem Hocker Farbtuben, Pinsel und eine Palette. Sie musste die Sachen irgendwann hierher gebracht haben. Sie selbst war nicht da. Ich ging nach oben. Auch dort war sie nicht.
Nachdem ich gefrühstückt hatte, klappte ich die Erika auf, spannte ein Blatt Papier ein und begann zu schreiben.
Erstes Kapitel.
»Es lag eine eigenartige Stimmung über dem Land. Kein Wind. Sommerliche Wärme. Leichte Nebelschwaden stiegen aus den feuchten Marschfennen. Es muss ein Herbsttag gewesen sein, denn die Kühe waren schon in ihren Ställen und ich hörte deutlich ihr behagliches Muhen aus dem warmen Stall. Eigentlich bin ich kein besinnlicher Mensch, der auf besondere Stimmungen leicht anspricht, auch kein sentimentaler oder gar romantischer. Aber dieser Abend, der Gang aus den Niederungen der Marsch an den Geestrand bei leichten Nebelschwaden, völliger Windstille und lauwarmer Luft, ist in meinem Gedächtnis haften geblieben. Damals ist es mir wohl zum ersten Mal in den Sinn gekommen, dass mein Schicksal sich fern von hier in einem Land vollziehen würde, das in meiner Vorstellung die Eigenschaften von Himmel und Hölle auf eine faszinierende Weise in sich vereinte.«
Ich sah auf. In mir hörte ich Stimmen, vor allem die Stimme einer Frau, der Person, die meine Mutter gewesen war. Sie störten mich bei meinem Vorhaben, endlich in meinen Roman einzusteigen. Es gab noch andere Probleme. Welche charakterlichen Eigenschaften sollte ich meinem Helden geben? Welche Psychologie? Es gab vor allem zwei Möglichkeiten: Er war ein ganz normaler Mensch, der ungewöhnliche Träume, Bedürfnisse, Sehnsüchte hatte, oder aber es war genau umgekehrt, er war ein ungewöhnlicher Mensch, der ganz gewöhnliche Wünsche hatte. In beiden Fällen würde es auf das Gleiche hinauslaufen: Die Hauptfigur erlebt Abenteuer, sie verlässt durch ihr Handeln und Erleben die Ebene einer banalen Biographie. Doch die Konsequenzen für den Roman würden jeweils höchst unterschiedlich sein.
Kamen die Abenteuer von außen wie im ersten Fall, dann konnte sich der Leser mit dem Helden besser identifizieren, mit ihm zittern, fiebern, hoffen. Eine solche Romanfigur war zweifellos Ishmael aus ›Moby Dick‹. Henry Morgan hingegen war ein ungewöhnlicher Mensch, der ganz gewöhnliche Machtgelüste hatte. Kein Sympathieträger also, aber ein Garant für spannende Situationen. Und die beiden anderen, sich mathematisch ergebenden Möglichkeiten? Ein ungewöhnlicher
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