Der Strandlaeufer
Empfänger an die Antenne an und drehte behutsam an den Knöpfen, um den Vorkreis und das Audion aufeinander abzustimmen. Plötzlich hörte ich leise Musik, Operettenklänge, dann verzerrte Stimmen. Sie sprachen unverständliche Botschaften durch den fleckigen Schallstoff. Das Fading ließ sie an und abschwellen. Ich erhöhte die Trennschärfe, indem ich das Audion schärfer einpfiff. Plötzlich brach der Empfang ab. Auch das Rauschen hörte auf. Ich zog das Chassis aus dem Kasten. Es war eingetreten, was ich befürchtet hatte: Der Heizfaden der Audionröhre leuchtete nicht mehr. Er schien auch diesmal seinen Geist aufgegeben zu haben.
Ich war müde, legte mich aufs Bett und lauschte dem Meer. Der ferne Klang der Wogen beruhigte mich wie ein Wiegenlied. Vieni oggi alla torre, flüsterte ich. Dann musste ich wohl eingeschlafen sein. Mehrmals erwachte ich aus diffusen Träumen, um sogleich wieder in ihnen einzusinken wie in ein schwarzes Moor sedimentierter Augenblicke.
Als ich aufwachte, war es taghell. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach elf. Ich wusch mein Gesicht in einer Schüssel mit kaltem Wasser, machte mir einen starken Kaffee und ging in den Ort. Die Warterei auf Carla machte mich verrückt. Ich ging zu Ugos Haus. Maria hängte Wäsche im Garten auf. »Wo ist Carla?«, sagte ich.
»Sie ist nach Rom gefahren. Sie will Sachen für ihre Bilder kaufen. Farben, Leinwand und so was. Sie sagt, sie arbeitet für eine Ausstellung.«
Ich ging zurück zum Turm. Eine Weile verbrachte ich oben auf der Plattform. Ein kräftiger Ostwind wehte. Der Himmel war reingefegt. Es war mir, als sähe es in mir ähnlich aus. Es war lange her, dass ich mich innerlich so wolkenlos gefühlt hatte.
Carla kam am nächsten Tag. Sie hatte eine große Tasche mit allem Möglichen dabei. Sie nickte mir zu und beachtete mich dann nicht weiter. Schweigend machte sie sich im Turmzimmer zu schaffen. Sie räumte auf, putzte und stellte ihre Sachen in ein Regal.
Dann hängte sie ein paar kleine Bilder auf. Darunter ein Foto von Silvana Mangano.
»Es ist ziemlich zugig hier«, sagte sie plötzlich. »Kannst du das nicht reparieren?« Sie deutete zur Wand. An der Westseite des Bauwerkes gab es einen langen Riss im Mauerwerk, durch den zuweilen ein kalter Wind pfiff. Ich begann, ihn abzudichten, indem ich alle möglichen Stofffetzen mit Hilfe eines Schraubenziehers hineinstopfte.
Als es Abend wurde, aßen wir an einem kleinen Tisch. Es gab Seewolf, den Carla Celli abgekauft hatte. Später gingen wir von Weißwein auf Rotwein über. Carla zündete Kerzen an. Es war unerträglich gemütlich in diesen alten Mauern. Dann bat sie mich, ihr vorzulesen, was ich geschrieben hatte.
»Ich habe noch nichts«, sagte ich. »Jedenfalls nichts Richtiges. «
»Das muss sich ändern. Eher schlafe ich nicht mit dir.«
Ich übernachtete draußen auf der Plattform. Carla schlief in meinem Bett. Am nächsten Tag begann ich mit der Arbeit, während Carla malte. Arbeit konnte man es eigentlich nicht nennen. Es hatte etwas mit Rückkehr zu tun. Mit einer Geburt nach innen. Und was mir bisher unmöglich schien, wurde mit einem Mal ganz leicht. Ich brauchte nur Luigis Rat zu folgen und wie ein Strandläufer aufzusammeln, was von den Wellen der Erinnerung aus der Tiefe der Vergangenheit angespült wurde.
Kapitel 22
W ie sie so dasitzt im Garten und redet, kommt sie einem nicht wie ein Mensch vor. Sie sitzt in ihrem Stuhl in dicken Kissen und redet. Sie trägt ihre Kleider nicht, sie hockt in ihnen, nackt und uralt, und redet pausenlos, ohne Sinn und Verstand. Der Sohn duckt sich unter ihren Sätzen. Er hält sich schlecht, weil ihn eine unsichtbare Last niederdrückt. Die Mutter sitzt vor einer halbgefüllten Tasse Tee und einem Teller mit einem angebissenen Erdbeertörtchen darauf und redet pausenlos. Eigentlich redet sie nicht. Sie bellt. Ihre trüben Greisinnenaugen sehen nicht, was um sie herum ist. Sie sehen nicht die Bäume, die Blumen, das Haus. Auch nicht den Sohn, der sich in seinem Korbsessel duckt. Sie sehen nur die innere Dunkelheit, als habe man ihre Augen herumgedreht, so dass die Pupillen nach innen zeigen. Sie sieht tief in sich hinein in eine Kinderdunkelheit, die tiefer ist als jede Nacht. Es ist die Dunkelheit unter dem Bett, die Dunkelheit zwischen Wand und Vorhang, die Dunkelheit im Treppenhaus, nachdem das Dreiminutenlicht unvermutet ausgegangen ist. Es ist eine panische Dunkelheit voll von Dieben, Mördern und Fallgruben, es ist
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