Der Strandlaeufer
Laboruntersuchung.
Pünktlich war ich im verabredeten Lokal. Mein Verleger rief mich auf dem Handy an und entschuldigte sich dafür, dass er etwas später kommen würde. Ich bestellte ein Glas Frascati und studierte die Speisekarte, als handelte es sich um ein Langgedicht von Ezra Pound. Dann sah ich ihn kommen. Er wirkte wie immer auf eine leicht verkrampfte Weise locker. Er setzte sich und lächelte milde und zugleich ein wenig resigniert wie ein Kind vor der Bescherung, das aus Erfahrung weiß, dass die Geschenke nicht ganz seinen Wünschen entsprechen. Wie üblich lud er mich zum Essen ein. Ein Ritual, an das sich alle Verleger halten. Sie betrachten es als eine Form der Zuwendung und merken nicht, dass der Autor sich gedemütigt fühlt. Er ist zwar einerseits froh darüber, seinen schmalen Geldbeutel schonen zu können, andererseits ärgert er sich über diese Situation, die seinen geringeren sozialen und ökonomischen Rang dokumentiert. Als Folge dieses Verdrusses bestellt er das teuerste Essen und trinkt den besten Wein und davon deutlich zu viel.
Mein Verleger ist ein gutaussehender Mann. Glücklicherweise versucht er nicht wie die meisten seiner Profession bedeutender auszusehen als seine Autoren. Er wirkt eher wie eine Art Kellner des Geistes, und so sieht er wohl auch seine Funktion. Was nicht ausschließt, dass er zuweilen gnadenlos in einen Text eingreift, dem Koch sozusagen den Löffel führt, abschmeckt und nachwürzt, weil er möchte, dass das, was er serviert, seinen Gästen auch schmeckt. Er glaubt ein Recht dazu zu haben, denn im Gegensatz zum Koch ist er ja die meiste Zeit im Restaurant und nimmt sehr deutlich wahr, wenn die Kunden ihr Gesicht verziehen oder aber, was selten der Fall ist, trotz überhöhter Rechnung zufrieden lächeln.
»Wie geht es dir? Was macht die Arbeit?«, fragte er, nachdem wir unsere Bestellung aufgegeben hatten. In diesem Fall hätte man auch einen Baum im Spätherbst nach dem Zustand seiner Blätter fragen können. »Bin in einer Sackgasse«, sagte ich. »Dieser Pirat liegt mir schwer im Magen. Er ist zur Zeit krank. Er will nicht mehr auf Beute fahren, er will keine Prisen mehr. Er liegt im Bett und denkt an seine Kindheit.«
»Das klingt gut«, sagte mein Gegenüber. »Wir wollen ja auch keinen normalen Piratenroman schreiben. Wir wollen nicht imitieren, was Stevenson in der ›Schatzinsel‹ gemacht hat oder Forrester in seinem ›Hornblower‹. Dein Pirat soll ein zwar grausamer, tatendurstiger, jedoch auch durchaus kontemplativer Mensch sein.«
Ich nippte an meinem fünften Wein und war längst mit allem einverstanden. »So etwas wie eine Mischung von Proust und Käptn Blood?«
»Ja, so ungefähr.«
»Ein Pirat, der auf dem Meer seiner Erinnerung Prisen jagt?«
Mein Verleger sah mich mit dem Ausdruck wohlwollender Verständnislosigkeit an. Dann fragte er: »Denkst du an eine historische Figur?«
»Manchmal denke ich an Henry Morgan. Er ist der berühmteste von allen, manche sagen, auch der grausamste. Als er mit seinem Schiff als kranker Mann nach England zurückkehrt, weil ihm auf seiner Pirateninsel die ärztliche Versorgung fehlt, wird seine komplette Mannschaft erst ins Gefängnis geworfen und dann aufgehängt. Morgan aber wird in den Adelsstand erhoben und darf sich fortan ›Sir‹ nennen. Zu verdanken hat er das ausschließlich seinem Erzähltalent. Er ist Waliser, und die sind bekanntlich große Erzähler, um nicht zu sagen geniale Lügner. Sir Henry wird bald so etwas wie ein begehrter Salonlöwe. Man reicht ihn in der Gesellschaft herum. Er trinkt, isst, redet, macht die Frauen an, indem er aus seinem Leben erzählt und über Gott, die Welt und den Tod räsoniert. Die Leute hängen förmlich an seinen Lippen, vor allem die Frauen, und das im wörtlichen Sinne. Morgan ist von nun an ein lebendes Buch.«
»Sehr schön«, sagte mein Verleger. »Die Anlage dieser Figur gefällt mir. Einer, der auf geniale Weise sein Schweigen bricht, als er nicht mehr handeln kann.«
»Mein Vater ist auch so jemand. Nachdem er von der Bühne des Meeres abgetreten ist, wird er auf hohem Niveau geschwätzig. Dreimal ist er mit einem Seeschiff untergegangen, einmal mit einem Luftschiff abgestürzt. Später hat er aus solchen Situationen starkes Seemannsgarn gesponnen und zu einem Netz verknüpft, mit dem er sich selbst, aber auch andere wie mich einfängt. Das erinnert an das Schicksal vieler Autoren. Weil die Zeit ihres Erlebens vorbei ist,
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