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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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mir ab: Ich würde meine Arbeit verlieren. Stimmt ja, wer war ich schon? Meine Sensation wäre unweigerlich am Fels des mit Elan errichteten Mythos zerschellt. Manchmal kommt es mir vor, als wäre auch der arme Aufzugführer daran zerschellt. Als ob sein Aufzug abgestürzt wäre … Auch umbringen hätten sie ihn können …
    Vielleicht doch besser so: in einer Kirche, beim Verkauf von Kerzen, ohne Gedanken nachzuhängen? Ein leichter, lichter Tod …
     
    »Also, daran ist noch nichts Besonderes, wenn sich im Garden Park ein Unbekannter neben Sie setzt, dick, mit Glatze, schwitzend, sich eigentlich nicht setzt, sondern auf die Bank plumpst, quasi: uff! endlich geschafft! und zur Ruhe kommt, ausdampft unterm Aprilsönnchen, und hat er verschnauft, sagt er: ›Tja, Urbino, viel kann ich nicht, aber Ihnen Ihr Photo zeigen, das kann ich …‹ Doch wenn Ihnen dergleichen zustößt, wie es mir zugestoßen ist, wundern Sie sich nicht und überlegen Sie nicht, sondern jagen Sie diesen Herrn sofort davon. Überhaupt ist Davonjagen stets die bessere Philosophie, die Weisheit der Würde … Bloß habe ich das erst viel später begriffen. Bloß habe ich mir diese Tugend, wiewohl begriffen, bis zum heutigen Tag nicht zu eigen gemacht …«
    So ausgiebig seufzte der alte Urbino Vanoski, seine wunderschönen Augen auf mich gerichtet – nie habe ich in jemandes Blick eine solche Direktheit erlebt, gepaart mit Demütigkeit. Im übrigen wandte er seinen wunderschönen Blick sogleich verlegen ab, damit ich bloß nicht auf den Gedanken käme, diese Philosophie könnte irgend etwas mit mir zu tun haben, obwohl sie das ja hatte, gerade mit mir. Als Reporter des »Thursday Evening« und der »Yesterday News« führte ich mit ihm ein
Interview. Wir saßen in seinem winzigen Kämmerchen, das aber derart sauber war und leer, dass es sogar übermäßig geräumig erschien. Das einzige Möbelstück war ein löchriger Furnierholzschrank.
    Es wäre regelrecht eine Gefängniszelle gewesen, wenn nicht eine gewisse Gefügigkeit des Ambientes: Die Kammer war die Gefangene seines Blicks, nicht er der Gefangene der Kammer. Der Raum umrahmte das Gesicht seines Herrn, und das Gesicht war der Rahmen seiner Augen. Ein gegenseitiges Eingepasstsein, gleichsam verkehrt herum: das Gesicht dem Blick, der Raum dem Gesicht. Seine Hundehütte befand sich unterm Dach, durch das schräge Fensterchen waren weder Hof noch Dächer zu sehen, nur ein Fetzchen Himmel mit einem in den Rahmen geschwommenen Wölkchen. Ich saß auf dem einzigen Kaffeehausstuhl, sehr unsicher; Vanoski auf seinem schmalen Klappbett. Sein sehr glattrasiertes, längliches Gesicht war ebenso sauber wie sein Zimmer, die Haut sogar jugendlich, was seltsamerweise sein Alter unterstrich, ihm Tiefe verlieh. Oh, wie leer, wie sauber, wie vorbereitet, um es jeden Augenblick zu verlassen, stets im reinen mit der Außenwelt! Nichts war in diesem Zimmer – nur ich mit meiner Dickleibigkeit und unschicklichen Gesundheit und ebensolchen Daseinsgier, und bald meinte ich die Küchenhitze meines Körpers, bald Grabeskühle zu spüren, sei es, dass ich aus anderen Dimensionen herkam, sei es, dass diese hier anders waren …
    Irgendwas hatte sich in meiner Wahrnehmung verschoben, denn mir gerieten andauernd die äußere und innere Oberfläche der Phänomene und Gegenstände durcheinander – ein eher unangenehmes Gefühl; und ich warf bereits feindselige Blicke auf diesen Irren, der allerdings den »Letzten Fall von Briefen« geschrieben hatte, ein dermaßen erstaunliches Buch, dass nur ich selbst es hätte schreiben können, wenn ich das könnte … Mit wieviel Freude hatte ich mich auf die aussichtslose Aufgabe gestürzt, das Grab des rätselhaften Vanoski ausfindig zu machen. Und dann das! Nicht das Grab hatte ich gefunden, sondern ihn selbst, und lebendig! Obwohl – lebendig? Gefunden hatte ich ihn, um in der Nähe dieses Minus-Menschen zu
frieren und mich über die Ironie der Vorsehung zu wundern, hatte sie doch die Fähigkeit gesandt – eigentlich nicht die Fähigkeit, sondern die Möglichkeit, eigentlich nicht die Möglichkeit, sondern den Zufall, ein solches Buch zu schaffen … eine solche Kraft, und das in den toten Lenden eines nicht mehr lebenden Menschen … gefunden hatte ich ihn, um voll heißem, pulsierendem Neid auf die Vergeblichkeit jeglichen Neids zu stoßen und außerdem die quälende Peinlichkeit zu empfinden, dass da einem Menschen zugesetzt wird, der zum Leben

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