Liebesfluch
1. Er
Mein Liebling,
es fällt mir außerordentlich schwer, dir diesen Brief zu schreiben. Und ich werde dafür sorgen – auch wenn es unheimlich feige ist –, dass du ihn erst dann lesen wirst, wenn ich bereits tot bin.
Wie eine Flamme leuchtet ihr bodenlanges rotes Nachthemd vom offenen Fenster in die Dunkelheit. Hinter ihr im Zimmer brennt ein schwaches Licht, das ihr helles Haar wie einen Heiligenschein umgibt. Sie umschlingt ihren Oberkörper mit den Armen, als müsste sie sich trösten, dabei bewegt sich ihr Nachthemd und schillert. Sie scheint Seide zu mögen. Alle ihre Nachthemden in der letzten Woche waren aus diesem schimmernden Stoff, nur die Farben haben sich geändert.
Sie starrt nach draußen in die warme Sommernacht – genau in meine Richtung. Wenn ich verrückt wäre, dann könnte ich mir beinahe einbilden, sie wüsste, dass ich hier bin, und will mir ein Zeichen geben. Doch ich bin nicht verrückt. Und ich weiß ganz genau, dass sie mich nicht sehen kann, denn ich bin gut im Wald hinter ihrem Garten versteckt, wo ich allerhöchstens von gierigen Stechmücken aufgespürt werde. Außerdem kenne ich mittlerweile den besten und sichersten Platz für meine Beobachtungen.
Es wundert mich, dass sie vor lauter Sehnsucht nach mir nicht krumm und alt geworden ist. Auf die Entfernung wirkt sie in ihrem ärmellosen Nachthemd wie eine junge, zierliche Frau. Unglaublich, dass sie einfach so weiterlebt, als ob es mich nie gegeben hätte.
Diese Erkenntnis macht mich klein und sie macht mich wütend, aber nicht verrückt. Noch kann ich nicht sicher sein, wer mir Lügen aufgetischt hat und wer nicht. Aber eines weiß ich: Mich haben bisher alle Frauen in meinem Leben belogen, betrogen und verraten. Für ihre Zwecke benutzt. Allein der Gedanke daran löst in mir den Reflex aus, gegen den Baumstamm zu treten, hinter dem ich stehe. Doch ich unterdrücke ihn, denn was würde das bringen? Nichts. Ich muss meinen Zorn effektiver nutzen.
Eben verändert sich ihre Haltung ein wenig, sie sinkt etwas zusammen. Ist es, weil er hereinkommt? Ja, tatsächlich, erst verdunkelt er ihren Heiligenschein, dann sehe ich, wie er zu ihr ans Fenster geht. Die Haare an meinen Armen stellen sich auf. Wenn ich nur wüsste, welche Rolle er bei dem ganzen Spiel innehat.
Nachdem er das Licht gedimmt hat, tritt er hinter sie und massiert ihre Schultern, doch sie entspannt sich nicht dabei, sondern verkrampft und dann dreht sie sich abrupt von ihm weg. Er zuckt mit den Achseln und zieht die schwarz-weißen Vorhänge zu.
Fassungslos starre ich auf das dunkle Fenster. Was fällt diesem Elenden ein, mich einfach auszusperren! Zorn brodelt durch meinen Körper, meiner Kehle entfährt ein wütender Laut und meine Hände ballen sich zu Fäusten. Mich durchzuckt eine wahnsinnige Lust, einen Stein zu packen, oder nein, besser noch einen Felsblock, und ihn gegen ihr Fenster zu schmettern. Aber ich beherrsche mich. Atme bewusst und langsam die abgestandene Sommerluft ein, die sich hier im Wald mit dem süßen Duft von blühendem Holunder und Weißdorn vermischt, und versuche runterzukommen. Ich darf nicht impulsiv handeln, sondern muss systematisch denken. Ich darf mir keine Fehler leisten. Es wäre leichtsinnig von mir, ich muss mich zurückhalten, bis ich entschieden habe, wie ich vorgehen, was ich mit ihr machen muss.
Als Nächstes werde ich mir ihr Haus von innen anschauen, mir Gewissheit verschaffen, die quälenden Zweifel beseitigen.
Bald.
Sehr bald schon.
Denn ich ertrage es einfach nicht länger.
2.
Du weißt, dass ich dich immer mehr geliebt habe als mein Leben, du warst für mich das Wasser, das Licht und die Luft zum Atmen. Bitte vergiss das nie, niemals und versuche, mir zu verzeihen.
Irgendetwas stimmt hier nicht. Ganz und gar nicht. Meine ersten Stunden in Deutschland und schon habe ich Angst. Grannie hatte mich gewarnt.
Vor einer Stunde bin ich aus dem Flieger gestiegen und nun sitze ich in diesem Auto und frage mich, warum der Mann, den ich erst seit dreißig Minuten kenne, kommentarlos von der Autobahn auf diesen dunklen Parkplatz fährt. Hier gibt es nicht mal beleuchtete Toiletten, keine einzige Lampe, nichts. Vollkommene Dunkelheit umgibt uns.
»Herr Zeltner?«, frage ich ihn und muss mich räuspern, weil mir ein Riesenkloß im Hals steckt. »Äh, ich meine Stefan, was machst du denn da?«
Ich umklammere das silberne Bettelarmband mit den vielen Anhängern, das Grannie mir als Glücksbringer mitgegeben hat, und
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