Der Tag wird kommen
Ich muss raus.
Der Unterricht ist vorbei und ich will nach Hause, aber Andreas steht in der Tür und versperrt mir den Ausgang.
Es gibt keinen anderen Weg nach draußen. Ich muss an ihm vorbei.
Warum geht es auf einmal wieder los? Ich war doch endlich unsichtbar. Was hat mich aus dem Schatten gezerrt?
Ich denke daran zurück, wie es angefangen hat. Wie ich zum Opfer geworden bin.
Alles war plötzlich verkehrt. Dass ich mich im Unterricht meldete. Die Art, wie ich redete. Sie fingen an, sich über mich lustig zu machen, und schlossen mich aus.
Dann begannen sie, mir ein Bein zu stellen. Sie gingen in der Gruppe hinter mir und traten mir in die Hacken. Immer in der Gruppe. Andreas war der Einzige, der sich allein an mich heranmachte. Umringt von Zuschauern, ließ er sich dauernd neue Sachen einfallen, um mich zu quälen. Ich verstand nicht, wieso alle das gut fanden. Wieso mir keiner half. Wieso es nur schlimmer wurde, wenn ich mich wehrte. Und noch schlimmer, als meine Mutter versuchte, mit Eltern, Lehrern, Psychologen und anderen, die keine Macht auf dem Schulhof besaßen, darüber zu reden.
Ich war auf mich allein gestellt.
Es wurde besser, als wir in die Mittelstufe kamen. Neue Schüler. Mehr Hormone. Mädchen mit Brüsten, in die sie reinkneifen konnten. Meine Peiniger kamen auf andere Gedanken. Und ich tat alles, um sie nicht an mich zu erinnern. Ich wich ihren Blicken aus und meldete mich nicht im Unterricht. Verschwand im Schatten, wo es sicher war.
Was ist also schiefgegangen? Wieso hat meine Unsichtbarkeit Risse bekommen?
Könnte sein, dass es Gunnars Schuld ist.
Als es eben zum Ende der letzten Schulstunde klingelte, kam er zu mir. Ich war nicht ganz bei der Sache, weil ich gerade meine Bücher in den Rucksack schaufelte, um möglichst schnell nach draußen zu kommen. Auf einmal stand er da. Ganz plötzlich. Oder besser gesagt, er saß. Pflanzte sich mit einer Arschbacke auf meinen Tisch. Ich spürte Angst und zugleich Ärger. Angst, weil ich auf keinen Fall die Aufmerksamkeit von Lehrern erregen will. Und Ärger, weil Gunnar offenbar nicht begreift, was er damit anrichtet, wenn er sich auf meinen Tisch setzt und so ein mitfühlendes Lächeln anknipst, das mir in den Augen brennt.
»Geht’s dir gut, Hans Petter?«, fragte er, in diesem kameradschaftlichen Ton, den Lehrer so draufhaben. Vor allem männliche Lehrer, die einen auf Kumpel machen wollen. Lehrerinnen kommen einem eher auf die mütterliche Tour.
Ich nickte. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, um einen Ausweg zu finden, irgendwas, damit Gunnar sich wieder verzog.
»Du, ich habe da ein Projekt vor, bei dem ich dich gern dabeihätte.«
Was immer das auch war, ich hatte keine Lust, aber wenn ich Nein sagte, würde er nur versuchen, mich zu überreden.
»Großartige Sache, das kann ich dir versprechen«, fuhr Gunnar fort. »Dauert nicht lange.«
»Okay«, murmelte ich und dachte mir, dass ich ja einfach nicht hinzugehen brauchte. Gunnar blickte sich um und bemerkte, dass einige aus der Klasse uns neugierig beobachteten. Sie hatten es auf einmal nicht mehr eilig, nach draußen zu kommen. Hatten aufgehört zu quatschen. Vielleicht wurde Gunnar endlich bewusst, dass er mich besser nicht vor allen Leuten angesprochen hätte, denn er stand auf und flüsterte beinahe: »Ich sage dir noch, wann und wo.«
Kurz sah es so aus, als wollte er mir auf die Schulter klopfen, aber dann besann er sich zum Glück eines Besseren und verzog sich eilig Richtung Lehrerzimmer. Ich dachte noch darüber nach, was in aller Welt das sein könnte, bei dem er mich dabeihaben wollte, aber ich vergaß es gleich wieder, als ich aus dem Klassenzimmer trat.
Andreas steht noch immer in der Tür zum Schulhof und starrt mich an. Ich sollte einfach wegschauen und Ruhe bewahren, aber Gunnar hat mich aus dem Konzept gebracht.
Vielleicht ist es die Größe, die Andreas zu dem macht, der er ist. Er ist riesig, schon immer gewesen. Immer einen halben Kopf größer als die anderen, ein richtiger Kraftprotz eben. Nicht dick, auch nicht mit so Angebermuskeln, wie ein Bodybuilder sie sich zum Posieren antrainiert. Er ist von Natur aus stark. Und wenn die Natur dich mit solchen Gaben ausgestattet hat, was machst du dann damit? Na klar, du benutzt deine Riesenfaust und dein Gespür für die Schwachstellen deines Gegners, um dir einen Platz ganz oben auf der Leiter zu sichern. Ist doch verlockend.
Andreas steht breitbeinig und mit verschränkten Armen da. Er hat auf mich
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