Der Tempel zu Jerusalem
vorzutragen.»
Salomo
erwachte aus seiner Benommenheit. Seine Mutter verhielt sich ihm gegenüber wie
eine Dienerin gegenüber ihrem Herrn. Für sie war er nicht mehr ihr Kind,
sondern ihr König.
Eine Welt brach zusammen, und
eine größere Welt öffnete sich. Er mußte nur noch ihre Gesetze entdecken.
«Sprich,
Mutter.»
«Adonais, ein Höfling, hat
gebeten, eine Nebenfrau Davids heiraten zu dürfen. Er bittet um deine
Zustimmung.»
Totenblaß
sprang Salomo auf. Noch nie hatte Bathseba ihren Sohn so kalt und zornig
erlebt.
«Mutter, bist
du dir der Bedeutung dieser Bitte bewußt? Die Nebenfrauen meines Vaters sind
jetzt meine! Was Adonais da fordert, ist der Thron!»
Salomo
täuschte sich nicht. Die Bitte des Höflings kaschierte einen versuchsweisen
Staatsstreich. Bathseba hatte einen unverzeihlichen Fehler begangen.
«Wer sich
schuldig macht, sich anstelle des Königs zum König auszurufen», rief sie ihm ins
Gedächtnis, «verurteilt sich selbst zum Tod.»
Als Banajas in den Palast
zurückkehrte, betrachtete Salomo den Polarstern. Den Blick auf die Erdachse
gerichtet, von der ein unsichtbarer Faden Himmel und Erde verband, hatte er
versucht, die menschlichen Sorgen zu vergessen und die Augen mit dem Schein des
Himmelszeltes zu füllen, das sich ins Unendliche erstreckte.
Banajas blieb
im Halbdunkel stehen. Salomo drehte sich nicht zu ihm um.
«Ein
Fehlschlag, Gebieter», murmelte er mit heiserer Stimme.
«Hast du mir
etwa nicht gehorcht?»
«Man hat Joab
vor mir gewarnt, er ist in einen kleinen Tempel auf dem Land geflohen, an einen
geheiligten Ort. Dort kann ihn meine Schwertspitze nicht erreichen. Man muß
abwarten…»
«Niemand darf
Hand an einen Mann legen, der bei Gott Zuflucht sucht», erkannte auch Salomo,
«es sei denn, es handelt sich um einen Verbrecher. Ist das etwa nicht der Fall,
Banajas? Joab hat Davids Neffen umgebracht. Er hat seine Freunde ermorden
lassen. Glaubst du, daß er deine Nachsicht verdient? Glaubst du, daß Gott ihm
gern Schutz gewährt?»
Als Salomo
den Blick wieder zum Polarstern hob, ritt Banajas bereits durch eins von
Jerusalems befestigten Toren.
Gemäß den Trauergebräuchen
hatte sich Salomo weder gewaschen noch rasiert und auch nicht die Kleidung
gewechselt.
Während ein
Zug Klageweiber seinem Gram lauthals Luft machte, näherte sich Davids Sohn dem
Leichnam seines Vaters, der mitten auf dem kleinen Platz vor dem Palast auf
einem hölzernen Schlitten aufgebahrt lag. Man hatte seine sterbliche Hülle mit
duftendem Öl gewaschen und mit Myrrhe und Aloeholz parfümiert.
Ein purpurnes
Gewand verhüllte den Leichnam. Zu seiner Rechten lag die Harfe, auf der er sich
beim Singen begleitet hatte, zu seiner Linken das Schwert, mit dem er gekämpft
hatte. Auf seiner Stirn funkelte ein Diadem.
Salomo küßte seinen Vater auf
die Schläfe. Es war der allerletzte Kuß, ein Kuß der Sohnesliebe, die den Tod
überdauern würde. Auf diese Weise ging die Seele des ehemaligen Herrschers in
die des künftigen Königs über.
Bathseba schritt an der
Spitze des Zuges, gefolgt von Klageweibern, die zu trauriger Flötenbegleitung
einen monotonen Singsang anstimmten. Die Witwe war die lebende Verkörperung
Evas, die den Tod über die menschliche Rasse gebracht hatte und ihr nun den Weg
in jene andere Welt öffnen mußte.
Je weiter die
Prozession vorankam, desto wilder gebärdeten sich die Frauen, streuten sich
Staub auf den Kopf und stießen wilde Schreie aus. Bathseba, deren majestätische
Haltung die am Weg zur Gruft drängelnde Menschenmenge beeindruckte, schlug
nicht den gewohnten Trauerweg ein, der ins Tal Josephat unweit der Stadt
führte, sondern schritt in Richtung der höchsten Mauer der befestigten Stadt.
Hier hatte man auf halber
Höhe eine tiefe Höhle mit Flachgewölbe in den Felsen geschlagen, zu der eine
Planke führte. Der Stein in ihrem Inneren war grob behauen. Salomo, Banajas und
Zadok, der Hohepriester, hielten den Trauerzug an. Davids Sohn betrat die
Grabkammer allein und versenkte sich lange neben dem Leichnam, der auf einer
Bank aus Kalkstein ruhte. Unter seinem Kopf lag ein duftendes Kissen, eine Gabe
an David, die den zarten Duft des Gartens Eden heraufbeschwor.
Als Salomo
die letzte Ruhestätte seines Vaters verließ, versperrte Banajas den Zugang mit
einem Felsblock, den Maurer zurechtrückten und überputzten. Das Andenken daran
würde im Laufe der Jahrhunderte vergessen werden, Gebeine und Fleisch würden
vergehen, doch David würde
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