Der Thron der Welt
Jesus sei wahrhaft göttlicher Abstammung gewesen. Und noch etwas. Thomas bezeichnet Jesus als
chrêstos
, mit einem
ê
geschrieben, und nicht als
christos
mit einem
i
. Die beiden Wörter werden gleich ausgesprochen, aber sie haben verschiedene Bedeutungen. Christos mit einem i bedeutet ‹der Gesalbte› – der Messias, den Gott gesandt hat, um die Wiederkunft des Herrn zu verkünden.
Chrêstos
mit einem
ê
bedeutet einfach ‹gut›.»
«Woher weißt du das alles?»
«Einer meiner Onkel ist Priester. Eine Zeitlang war ich für ein Leben als Geistlicher vorgesehen.»
«Ich bin zwar kein Gelehrter, aber mir kommt es so vor, als würdest du Haarspalterei betreiben.»
Hero schwieg einen Moment, bevor er weitersprach.
«Das tun Theologen eben. Sie haben es schon seit tausend Jahren getan, und das Ergebnis ist der Glaube, wie er heute ausgeübt wird, bis hin zur winzigsten liturgischen Kleinigkeit. Alles, was nicht in die offizielle Version passt, hat im Kanon keinen Platz. Das Schisma zwischen Rom und Konstantinopel ist ein gutes Beispiel dafür. Wisst Ihr, wodurch es ausgelöst wurde?»
Vallon dachte nach. «Ich habe keine Ahnung.»
«Im Hinblick auf die Doktrin ist der Hauptstreitpunkt ein einzelnes Wort,
filioque
, das die römisch-katholische Kirche in das nicänische Glaubensbekenntnis eingefügt hat. Es bedeutet, ‹und dem Sohn› und es taucht in dem Abschnitt auf: ‹Und ich glaube an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht.› Was durch diesen Zusatz unterstrichen wird, ist, dass Jesus, dem Sohn, die gleiche Göttlichkeit zugesprochen wird wie Gott, dem Vater. Die Ostkirche will diesen Zusatz nicht akzeptieren, weil sie auf der Vorrangstellung von Gott, dem Vater, besteht. Sie streiten schon seit fünfhundert Jahren über dieses Wort.»
«Die Kirche hört also nur, was sie hören will.»
«So ist es. Die Kirchenväter verlangen ja schon einen Berg klarer, unumstößlicher Argumente, wenn in den anerkannten Evangelien auch nur ein Punkt geändert werden soll. Ein Buch, das Abenteurer in Anatolien entdeckt haben, würde ihnen ganz bestimmt nicht als Beweis für die Echtheit des Thomasevangeliums reichen.»
«Rom vielleicht nicht. Die griechisch-orthodoxe Kirche könnte aufgeschlossener sein.»
Hero schüttelte den Kopf. «Auch wenn sie sich streiten, beide Kirchen würden jedes Buch, in dem das Menschsein Jesu betont wird, als verabscheuungswürdige Häresie betrachten.»
«Das heißt, dass wir, wenn wir das Evangelium noch hätten und versuchen würden, es zu verkaufen, dafür auf dem Scheiterhaufen landen könnten.»
«Ich weiß nicht, ob sie so weit gehen würden. Aber das Evangelium würden sie wahrscheinlich verbrennen.»
Eine Zeitlang ritt Vallon schweigend weiter. «Hero, wenn das als Trost für mich gemeint war, hat es nicht funktioniert.»
«Ich dachte nur, Ihr solltet es wissen.»
«Du hast nur ein paar Abschnitte gelesen. Cosmas hatte Gelegenheit, sich das ganze Buch in aller Ruhe anzusehen. Er war ein hochgebildeter Mann. Ihm müssen dieselben Zweifel gekommen sein wir dir, und das hat seinem Wunsch, das Buch in die Hände zu bekommen, trotzdem keinen Abbruch getan.»
«Cosmas hat vor allem anderen nach der Wahrheit gestrebt. Vielleicht hat ihm Thomas etwas offenbart, das die ganze Christenheit bis in die Grundfesten erschüttern würde.»
«So etwas wie die Geheimnisse, von denen Thomas sagt, sie würden Steine zum Brennen bringen.»
«Möglich. Oder etwas anderes, zum Beispiel eine Offenbarung, die Jesu Tod und Auferstehung betrifft.»
«Und wie sollte die lauten?»
«Ich weiß nicht, ob ich es aussprechen soll. Es ist blasphemisch.»
«Mach dir keine Sorgen um mein Seelenheil. Komm schon, heraus damit.»
«Also gut.» Hero sammelte sich kurz. «Einige Quellen sagen, dass Thomas in Indien evangelisiert und an der Küste viele Menschen bekehrt hat. Cosmas hat einige der Gemeinden dort besucht, auch den Thomas-Schrein in der Nähe der indischen Stadt Madras. Die Christen dort nennen sich ‹Thomaschristen›, aber Cosmas hat mir erklärt, dass sie zu einer nestorianischen Sekte gehören.»
«Über die weiß ich nichts, außer dass sie von der Kirche als Häretiker bezeichnet werden.»
«Und zwar Häretiker von der verdammenswertesten Sorte. Nestorius hat vier Jahrhunderte nach Thomas gelebt, und wie er hatte er Zweifel an der Göttlichkeit Jesu. Sogar als Patriarch von Konstantinopel hat er noch gepredigt, dass Christus
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