Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
hat, auf welche Weise auch immer, für den ist die Suche nach der verlorenen Kraft eine Notwendigkeit.
Um diese Kraft, diese Urvitalität, dieses Urfeuer wieder zu entfachen, eignen sich am besten therapeutische Verfahren, die den Körper einbeziehen und bei denen der Schwerpunkt in der Energiearbeit liegt: Bioenergetik, Atemarbeit bis hin zu Encounter-Gruppen, in denen auch Aggressionen und Sexualität ausdrücklich thematisiert werden, das Tier im Menschen mit einbezogen wird, um wieder an neue Energien zu gelangen.
Eine Anmerkung zum Wort »primitiv« ist hier angebracht: Dieses Wort kommt von primus (lateinisch: der Erste). Die helle Seite dieses Begriffs ist in der unschuldigen Ursprünglichkeit des neugeborenen Kindes ausgedrückt, das mit großen Augen völlig unverstellt in die Welt blickt. Die biblische Aufforderung »Ihr sollt werden wie die Kinder« entspricht dieser Primitivität. Die Schattenseite dieses Begriffs bedarf wohl keiner Erklärung.
Die Psychoanalyse als therapeutisches Verfahren ist hier aus zwei Gründen nicht empfehlenswert. Erstens, weil Widder ein zukunftsorientiertes Thema ist und die Psychoanalyse sich so ausführlich mit der Vergangenheit beschäftigt. Heute gibt es einen neuen Trend in der Psychotherapie, der die Bedeutung der Vergangenheit eher gering veranschlagt. Die Botschaft heißt stattdessen: Alles ist möglich! Du musst nur in deinen inneren Computer neue Programme eingeben, positiv denken lernen, deiner Vision Kraft geben. So naiv diese Einseitigkeit meiner Ansicht nach ist, als Gegenbewegung zur Vergangenheitsverliebtheit mancher therapeutischer Verfahren ist sie mit Sicherheit wichtig. Feuerbetonte Menschen wie Widder haben sicher eine Affinität zu dieser Sichtweise, sei es als Klient oder Therapeut. Der zweite Aspekt, der meines Erachtens die Psychoanalyse für Widder problematisch macht, ist, dass man dabei sehr lange still auf einer Couch liegen muss. Gerade das Stillhalten ist jedoch das Problem der gebrochenen Widder, die früh schon gelernt haben, sich zu kontrollieren, sich zu beherrschen. Deshalb kann es passieren, dass sie die Situation der Psychoanalyse als eine Wiederholung dieses Stillhaltens empfinden: Wieder liege ich brav auf der Couch, wieder darf ich mich nicht rühren, wieder darf ich nicht laut sein.
Auch andere gesprächsorientierte Verfahren, welchen Wert sie grundsätzlich auch haben mögen, sind hier nicht ausreichend, schließlich geht es vor allem um die Frage: Wie komme ich wieder an meine Energien, an mein Kraftpotenzial? Es genügt nicht zu wissen, warum ich diese Kraft nicht zur Verfügung habe, wichtig ist vor allem, sie wieder zu wecken. Einem gefangenen Tiger nützt es nichts, wenn er weiß, warum er gefangen ist oder wer ihn in den Käfig gesteckt hat; was er braucht, ist ein Ausweg aus dem Käfig.
Noch ein paar Worte zum ungebrochenen Widder. Auch da gibt es natürlich Probleme und Schattenseiten, nur sehen sie schwerpunktmäßig anders aus. Ein ungebrochener Widder, das gilt vor allem bei Männern, wird in der zweiten Lebenshälfte oft sehr einsam. Ein Leben nach dem Grundsatz »Ich will« macht auf die Dauer einsam, wenn in diesem Lebenskonzept nicht irgendwann ein »Du« oder »Wir« auftaucht. Es sei denn, man versteht unter »wir«: Du sollst tun, was ich will. Ein in diesem Sinne orientierter Widder müsste sich spätestens in der zweiten Lebenshälfte auf seinen Gegenpol im Tierkreis beziehen, auf Waage, das Zeichen der Liebesgöttin Aphrodite, in dem es um die Versöhnung der Gegensätze geht. Das, was Widder mit dem Schwert der Entscheidung trennt, wird im Gegenprinzip Waage wieder versöhnt und ins Gleichgewicht gebracht. Letztlich wäre dieses Sich-Beziehen auf den Gegenpol Waage der Weg zur Liebe, der Weg zum »Du«. Das heißt nicht, dass man seine Widder-Qualität ablegen soll, aber jedes Zeichen muss sich irgendwann auf den Gegenpol beziehen, sonst entsteht eine Einseitigkeit, die auf Dauer nicht gesund sein kann.
Für einen Widder würde das auch heißen, eine gesunde Version von »Ich brauche dich« zu entwickeln. Ein bekannter Widder, nämlich Erich Fromm, hat einmal gesagt, dass ein großer Unterschied besteht zwischen der Einstellung »Ich liebe dich, weil ich dich brauche« und »Ich brauche dich, weil ich dich liebe«. Sich das »Ich brauche dich« im guten Sinne einzugestehen, das allgemein menschliche Bedürfnis nach Liebe zuzugeben ist eine große psychische Heldentat für einen Widder.
In diesen
Weitere Kostenlose Bücher