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Der Unsichtbare Feind

Titel: Der Unsichtbare Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
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Prolog
    Freitag, 28. Oktober 1998, 1.00 Uhr
Kailua, Insel Oahu, Hawaii
    Seine Schreie weckten sie auf und ließen sie sofort zu seinem Bettchen laufen. »Mamiii!«
    Ohne sich um Licht zu kümmern, durchquerte sie mit einem halben Dutzend weiter Schritte den sechs Meter langen Flur, der ihre beiden Schlafzimmer trennte. »Ich bin schon da, Tommy«, beruhigte sie ihn, während sie an sein Bett eilte. Als sie ihn in die Arme nahm, rang er nach Luft. »Ich bin da, Schatz«, wiederholte sie, bereit, ihm zu sagen, dass er nur einen bösen Traum gehabt hatte. Selbst als sie merkte, dass seine Stirn, die ihr Nachthemd durchnässte, vor Fieber glühte, nahm sie noch an, dass seine Erkältung schlimmer geworden sein musste und er sich beim Husten erbrochen hatte. Sie war immer stolz darauf gewesen, dass sie sich durch das Bewusstsein, was passieren könnte, nicht ihre Objektivität vernebeln ließ, oder dass sie sich, wenn er krank wurde, nicht immer gleich das Schlimmste ausmalte. Aber sein ununterbrochener, trockener Husten und das Ringen um Luft machten ihr doch zunehmend Sorgen. Sie schaltete das Licht ein und sah, wie ihm blutiger Schaum aus Nase und Mund quoll, während er spuckte und keuchte.
    Panik durchfuhr sie mit einer Kraft, als ob sie auf dem elektrischen Stuhl säße. »Mein Gott, nein!«, entfuhr es ihr, als könnte sie gegen den Anblick protestieren, ihm befehlen zu verschwinden, ihn durch einen Wimpernschlag wegwischen.
    Dann übernahmen ihre Instinkte die Kontrolle. Sie drehte ihn mit dem Gesicht zum Boden, sodass das Blut frei aus seinen Atemwegen laufen konnte, und trug ihn nach unten, wobei sie eine rote Spur auf dem Teppich hinterließ. Sie entschied im Bruchteil einer Sekunde, dass es schneller wäre, wenn sie ihn selbst zum Krankenhaus fuhr, und griff sich im Vorbeigehen die Schlüssel, die auf dem Küchentisch lagen, und das Handy. Sie eilte aus dem Haus und wiederholte dabei: »Mami hält dich fest. Mami hält dich ganz fest. Spuck aus und atme ein.« Abwechselnd schluchzte er und rang nach Atem, und mit ihrer Handfläche, die seinen Brustkorb stützte, spürte sie ein ganz schwaches Vibrieren – das Schnurren einer Lunge voller Flüssigkeit.
    Diese Erkenntnis verstärkte nur ihre Angst, während sie im Geiste die Möglichkeiten durchging, was er haben könnte, und sie waren alle schlimm. »Ach, mein armer Junge. Ja, so ist es gut. Alles wird gut!«, redete sie weiter und sprintete atemlos über den Rasen zur Garage. Sie wusste, dass es Lügen waren, und dennoch hoffte sie, dass der Klang ihrer Stimme ihn beruhigen würde.
    Aber so geübt sie war, andere mit solchen Worten zu trösten, jetzt war sie voller Furcht, sodass ihr die Worte mitten im Satz halb im Halse stecken blieben. Ihr war klar, dass der Atem in kurzer Zeit aussetzen würde, und sie waren eine halbe Stunde zu weit von dem Ort entfernt, an dem sie sein Leben retten konnte. Die Einsamkeit und die Entfernung von der Stadt, die sie so leidenschaftlich gesucht hatte, als sie ihr Stückchen Paradies am Strand auswählte, wurden zu seinem Todesurteil. »Was ist es, das ihn umbringt?«, flüsterte sie mit all der Inbrunst eines Gebets, als ob Gott die Diagnose stellen könnte. Da er schwieg, zermarterte sie sich das Gehirn nach der Antwort, aber ihre Gedanken taumelten im freien Fall. Gestern schien er nur eine Erkältung gehabt zu haben. Hatte ihre Besessenheit, nicht zu stark zu reagieren, dazu geführt, dass sie etwas übersehen hatte, das sie hätte alarmieren können?
    Bis sie die Wagentür aufgerissen, sich auf den Fahrersitz gesetzt und ihn, immer noch mit dem Gesicht nach unten, auf ihren Schoß gelegt hatte, hatte er angefangen, bei jedem Ausatmen kleine, schrille Schreie auszustoßen. Sie rammte den Schlüssel ins Zündschloss, fuhr mit quietschenden Reifen rückwärts aus der Einfahrt und raste wie eine Rakete auf die Straße.
    Mit einer Hand am Steuer und der anderen am Telefon, drückte sie auf die Kurzwahltaste.
    Nach dem zweiten Klingeln meldete sich die Stimme. »Notfallstation, Honolulu General –«
    »Hier ist Dr. Sandra Arness. Ich bin auf dem Pali Highway und fahre von Kailua aus in Ihre Richtung. Es geht um meinen Sohn. Er hat akute Atemschwierigkeiten – durch eine Sepsis und sehr wahrscheinlich Pneumonie. Um Gottes willen, schicken Sie mir einen Ambulanzwagen entgegen, und sorgen Sie dafür, dass sie Wiederbelebungsgeräte für einen Dreijährigen mitbringen –« Sie brach in Schluchzen aus, denn sie konnte den

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