Der Tod des Chefs/Mord mit doppeltem Boden
auf
der gegenüberliegenden Seite des Hofs traf ich auf einen untersetzten jungen
Mann mit einer wilden Mähne schwarzen Haares. Jesus Herrera, ein einheimischer Künstler
und Schöpfer fanatischer Fabeltiere aus Papiermache. Beinahe anbetend stand er
vor einem seiner leuchtend bunten geflügelten Drachen, der von der Decke
herabhing.
»Hallo, Jesse.« Er hörte den Spitznamen
lieber als das biblisch belastete ›Jesus‹.
Mit blitzenden Augen drehte er sich um.
»Elena! Großartig, wie Sie sie gehängt
haben.« Er wies auf den Drachen, dann auf einen Leguan mit
Schmetterlingsflügeln. »Meine kleinen camaleónes haben nie besser
ausgesehen.«
Er nannte sie camaleónes — Chamäleons
— , weil sie, wie er behauptete, je nach Hintergrund, Blickwinkel und
Beleuchtung ihr Aussehen wandelten. Und ich mußte ihm recht geben.
»Es freut mich, daß Sie zufrieden sind.
Die camaleónes werden bei der Presse bestimmt Aufsehen erregen, wenn der
Empfang läuft wie geplant.«
»Warum sollte er nicht?«
Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß auch
nicht. Eigentlich müßte alles glattgehen. Die Stücke stehen. Das Essen ist
bestellt. Die freiwilligen Helfer wissen Bescheid. Die Informationsmappen sind
fertig.«
»Na also. Was kann dann noch
schiefgehen?«
»Keine Ahnung. Aber irgendwas geht
bestimmt in die Hose.«
Jesse lachte. »Ach, Quatsch. Das
Schlimmste, was passieren kann ist, daß Frank mit bekleckerter Krawatte
antanzt.«
»Um Frank mach ich mir schon lange
keine Sorgen mehr. Mir selber wird’s allmählich zu viel. Ich bin hundemüde,
aber nachts kann ich nicht schlafen. Ich hab dauernd Kopfschmerzen. Vorhin bin
ich zur Apotheke rüber und hab mir ein paar Aspirin geholt, und als ich
zurückkam, hatte ich einen Strafzettel am Auto. Zu Hause stapelt sich das
schmutzige Geschirr, und wenn ich heute abend nicht meine Wäsche mache, habe
ich zum Empfang nichts anzuziehen.«
»Arme Elena! Sie arbeiten zuviel.«
»Sagen Sie das mal dem Boss.«
»Nein, danke. Das einzige Mitglied
dieser Familie, mit dem ich freiwillig rede, ist Maria.«
Maria war Franks zwanzigjährige Nichte.
Sie arbeitete als Sekretärin bei uns im Museum.
»Sie sind also immer noch in sie
verknallt?«
»Verknallt? Wir lieben uns«, erklärte Jesse
mit Würde.
»Ich dachte, Frank hätte Ihnen
klargemacht, daß das nicht geht.«
»Nein, er sagte, wenn zwischen uns was
wäre, könnte ich eine Ausstellung meiner Sachen hier im Museum vergessen.«
»Muß ja hoch hergegangen sein.«
»Das kann man wohl sagen.« Jesses
dunkle Augen wurden hart und kalt. »Ich hab mich erboten, ihm das Genick zu
brechen.«
Seine kalte Wut war mir nicht geheuer.
Jesse war ein emotionaler Mensch, der zu plötzlichen Stimmungsumschwüngen
neigte. Und solche Umschwünge konnten recht gefährlich sein.
Er sah mir das Unbehagen wohl am
Gesicht an, denn er lächelte beruhigend und sagte: »Ach was, keine Angst,
Elena. Tio Taco läßt mich kalt. Aber es ist einfach traurig — Maria de la Cruz,
das schönste Mädchen, das je von Mazatlán nach Norden reiste, unter der Fuchtel
dieses schmierigen Fettwanstes zu wissen.«
Unwillkürlich war er in die Melodie
seiner Muttersprache verfallen. Es waren Rhythmen, die ich in meiner eigenen
Rede zu hören pflegte, in der Rede aller Menschen, die in spanisch sprechenden
Familien aufgewachsen waren.
Ich erwiderte das Lächeln.
»Na, Frank wird sie ja nicht gerade in
Ketten legen.«
»Von wegen! Es gibt unsichtbare Ketten.
Bei Tag ist sie an diese verdammte Schreibmaschine gefesselt, für einen
Hungerlohn, den sie für Unterkunft und Verpflegung an ihn abliefern muß, und
abends — und das ist das Schlimmste — muß sie seine fünf gordicitos hüten.«
Ich lachte. ›Kleine Dickerchen‹ war die
richtige Bezeichnung für die de-Palma-Kinder. Maria hatte wahrhaftig kein
leichtes Los.
»Ja«, sagte ich, »und Robert nicht zu
vergessen.«
Jesse schlug sich mit der Hand vor die
Stirn.
»Der Kerl! Dick, faul und gefräßig und
fünfundvierzig Jahre alt dazu. Ich bin überzeugt, der Bursche hat einen
Erbfehler. Bildet sich Tio Taco wirklich ein, er könnte Maria mit seinem Bruder
verheiraten?«
»Na, verwandt sind die beiden ja nicht.
Maria ist Franks angeheiratete Nichte.«
»Aber — Robert?«
»Hm, ich versteh Sie.«
In der Stille hörte ich das leise
Rascheln des camaleón, das im Luftzug über unseren Köpfen sanft hin und
her schaukelte.
»Sind Sie wegen Maria hergekommen?«
fragte ich.
Jesse schüttelte den
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