Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
näher. Marvin war jetzt wie erstarrt! Er holte noch einmal tief Luft, hielt sie an.
›Er wird dich treffen!‹, ging es ihm durch den Kopf. ›Er wird dich zermalmen! Es ist aus!‹
Der Wagen wurde immer größer, verdunkelte ihm die Sicht. Schließlich sah er nur noch Metall. Schrille Geräusche, wie knirschendes, aufeinander reibendes Material! Dann wie ein Stöhnen des Fahrzeugs.
Irgendjemand stieß ihn noch von hinten vorwärts.
Am Ende der Ruck, der ihn aus dem Rollstuhl schoss. Ein Ruck, der ihn mitten im Körper erschütterte! Marvin sah vieles, konnte aber nichts erfassen. Er stürzte, das merkte er noch, hörte Knochen knacken. Es mussten die seinen sein. Kein Schmerz, nur Härte! Das Gefühl, wie sein Körper zerschmetterte!
›Der Tod kann mich nicht mehr überraschen. Ich habe mich schon so häufig mit ihm befasst, dass ich glaube, ihn ertragen zu können, wenn es so weit ist.‹
So hatte Marvin zu Frederik gesagt. Jetzt hatte er ihn doch noch überrascht. Nichts war planbar, nicht mal der Tod.
›Tod – du elender Räuber – alles verlangst du von mir‹, dachte er. ›Einfach alles.‹
Nichts wollte er ihm lassen. Nicht einmal seinen letzten Willen und ein paar Tage mehr zum Nachdenken. Marvin grinste. Völlig unnötig seine Angst vor dem Tod durch den Tumor! Alles umsonst gewesen! Er hätte diese letzten Wochen mit ein paar Tabletten gegen Kopfschmerzen und Spastik bis heute genießen können. Wie die Ente im Park. Wie es ihr wohl jetzt erging?
Von oben starrten verschwommene Gesichter auf ihn herab. Er hörte Lisas Stimme – sie schrie! Jemand bewegte ihn. Der Schmerz zerriss seine Gedanken.
Ja – der Tod wollte ihn heute überraschen, aber musste er so grausam daher kommen, so schmerzhaft? Warum konnte er nicht sanft einschlafen und dann einfach nicht mehr aufwachen? Schlimm zu wissen, dass diese Empfindungen nie mehr aufhören würden, bis zum letzten Atemzug. Nie mehr ein angenehmes Körpergefühl, keine Genesung. Erst der Tod würde ihn hieraus erlösen. Er sollte darauf hoffen. Doch dieses Ende wäre gleichzeitig das Ende aller Gefühle. Es war ein Dilemma. Wen konnte er jetzt noch um Rat fragen?
›Die Wahrheit liegt in dir selbst!‹, sagte man so schön. Wenn das so war, dann müsste er doch alle Antworten wissen. Sollte er vielleicht sich selbst fragen? Marvin schaffte es zu schmunzeln, zumindest innerlich. Nachdem so viele Leute ihn besucht und ihr Leid geklagt hatten, nachdem so viele Leute ihm die Ohren vollgequatscht und ihm nicht zugehört hatten – wie wäre es, wenn er sich selbst besuchte? Denn da war er sich ganz sicher – er selbst würde sich ganz bestimmt richtig zuhören.
Er stellte sich vor, wie er den Gang der Krankenstation entlangging. Diesen kühlen, hygienischen Gang mit glatten, glänzenden Böden und kahlen Wänden, hier und da ein christliches Kreuz, das mehr an Tod, als an Trost erinnerte. Vorbei an dem Schwesternzimmer, in dem wieder einmal niemand saß, bis an die Tür mit der Nummer 832. Marvin hielt inne. Ein seltsamer Gedanke, sich selbst zu begegnen. Vielleicht würde er sich erschrecken oder vielleicht sogar einen Lachkrampf bekommen. Konnte er sich überhaupt vorstellen, seinem eigenen ›Ich‹ zu begegnen?
Zögerlich klopfte er an seine Tür, wartete auf ein Wort von innen, dass er hereinkommen dürfe. Er klopfte noch einmal.
»Ja, bitte.«
Die Aufforderung aus dem Zimmerinneren klang freudlos, kraftlos, als fehlte ihr jeglicher Ausdruck der Neugierde auf den Besuch. Marvin öffnete die Tür und trat ein. Er vermied den sofortigen Blickkontakt mit sich selbst. Im Augenwinkel sah er sich jedoch im Krankenbett liegen, währenddessen er begann, mit leisen, vorsichtigen Schritten auf das Bett zuzugehen. Derweil bemerkte er, dass sein Gegenüber ihm bereits offen ins Gesicht schaute. Jetzt war es zu spät, umzukehren! Heftig klopfte sein Herz, als er sich endlich traute, den Blick auf sich selbst zu richten. Da sah er sich, mit blasser Haut, ohne Augenspiel – so, wie er sich morgens und abends im Spiegel sah – Marvin anblickend, sich scheinbar überhaupt nicht fragend, wieso es sein konnte, dass er sich auf einmal selbst begegnete. So wirkte er also nach außen – eigentlich leblos, nur durch das Fleisch noch in der Existenz gehalten. Ein Mensch, der im Sterben lag, nicht mehr kämpfte, aber auch noch nicht gehen wollte.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er und der Mann im Bett richtete seinen Kopf von ihm ab, gegen die Wand.
»Beschissen!«,
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