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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Diez
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schön.«
    Es wirkte einen Moment so, als wollte einer von beiden noch etwas sagen, dann drehte sich meine Mutter zu mir um und ich schob
     sie weiter. Vor dem Buchladen hielt ich an, weil ich dachte, dass sie das freuen würde, sie hatte so viele Bücher hier gekauft.
    »Eine nette Frau«, sagte sie und meinte die Buchhändlerin, aber weil sie sich im Fenster spiegelte, schien es, als spräche
     sie zu sich selbst.
    Ein paar Häuser weiter war der Kinderladen. Wir hatten schon ein paar Mal darüber gesprochen, dass wir zusammen Kleider kaufen
     wollten für das Baby, auf das sie sich so freute. Aber jetzt, wo wir so nah waren, wirkte es, als sei sie sich nicht mehr
     sicher. Vielleicht, dachte ich in diesem Moment, dachte sie in diesem Moment, können wir den Tod etwas vertrösten, wenn wir
     den Einkauf verschieben.
    Der Laden hatte eine alte, schmale Tür aus Holz, an der die Farbe abblätterte. Ich versuchte, die Tür mit der Schulter aufzuhalten.
     Dann drehte ich den Rollstuhl um, meine Mutter stöhnte etwas, ich hielt die Tür mit meinem Fuß auf und zog den Rollstuhl rückwärts
     die Betonstufe hoch in den Laden.
    »Hallo«, sagte meine Mutter und war wohl selbst überrascht, wie kräftig ihre Stimme klang. Aus dem hinteren Teil des Ladens
     kam eine junge Frau.
    »Wir suchen etwas für meine Enkelin.«
    »Wie alt ist sie denn?«
    »Sie ist noch gar nicht geboren.«
    Die Frau schaute meine Mutter an und dann mich und zeigte uns ein paar kleine Strampelanzüge in Rosa und eine Bluse mit Rüschen.
     Meine Mutter sah sich die Kleider kaum an.
    »Und da drüben?«
    »Das ist schon für ein bisschen ältere Babys.«
    »Lass mich das mal anschauen«, sagte meine Mutter.
    An der Stange hingen Pullover und Hosen, etwasdarüber Mützen, Schuhe und Socken. Meine Frau und ich wussten nicht, ob es ein Mädchen werden würde oder ein Junge. Meine
     Mutter war sich sicher.
    »Diese gelben Socken da«, sagte sie, »die will ich, das sind die Socken für die rosa Prinzessin.«

    Das Sterben passiert meistens nicht plötzlich. Es zieht sich hin, das Leben entweicht in vielen kleinen und ein paar großen
     Schüben, jedes Mal erschrickt man ein bisschen, trauert ein bisschen, findet sich damit ab, macht weiter. Dann geht es wieder
     ein wenig besser, das Leben drängt sich in den Tod hinein.
    Wenn man sieht, wie ein Mensch stirbt, dann ist die Trauer etwas, das in einem wächst. Trauer hilft dem Überlebenden und nicht
     dem, der stirbt. Manchmal habe ich mich dafür geschämt, dass ich die Trauer genossen habe. Manchmal auch nicht.
    Ich war oft bei meiner Mutter in diesen letzten Monaten; das sagte meine Frau. Ich war nicht oft bei meiner Mutter; das ist
     mein Eindruck. Ich war so oft da, wie ich konnte; das sagte meine Mutter, auf diese zwiespältige Art, die viele nicht verstanden.
    Hochmütig, harsch, schwierig, das waren Worte, die Menschen benutzten, um sie zu beschreiben, das sind immer noch die Worte,
     die sie benutzen, und es sind ihre Freunde, die so reden. Missionarisch, sagen sie, war sie, geradlinig, unbedingt.
    Ambivalent, das würde ich sagen. Und ausweichend.
    Wir konnten über alles sprechen? Meine Mutterglaubte das sicher, sie hatte in ihren jahrelangen Therapiesitzungen gelernt, dass Reden hilft. Ich kann mich aber nicht erinnern,
     dass wir redeten. Ich kann mich erinnern, wie wir zusammen beim Essen saßen, an dem hellen Holztisch, der bis zuletzt in ihrem
     Wohnzimmer stand, und ich war zwölf und las Asterix. Und sie, schwieg sie? Wahrscheinlich schwieg sie nicht, aber sie sagte
     auch fast nichts.
    Es war eine eigentümliche Stille zwischen uns, die aus Worten bestand, die wir austauschten, ohne sie genau anzusehen. Wir
     steckten sie weg, diese Worte, oder wir ließen sie einfach fallen und hoben sie nicht mehr auf. Wir waren uns nah, ohne uns
     jemals nah zu sein.
    Eine Weile dachte ich, dass das an ihr lag. Dann dachte ich, dass das an mir lag. Dann dachte ich, vielleicht liegt es an
     der Scheidung. Und erst nach ihrem Tod habe ich verstanden, dass diese Distanz, diese Kühle, diese Kälte etwas war, das sie
     aus ihrer Familie, aus ihrem Elternhaus mitgebracht hatte, eine Verschwiegenheit und Gefühlsverleugnung, die sie nicht mehr
     loswurde und von der auch ich mich erst nach und nach frei machen konnte.
    Etwas verwirrend war dabei, dass sie beides zugleich sein konnte, direkt und ausweichend, aggressiv und schwach, ambivalent
     eben, selbst in ihrem Versuch, die Lügen im fremden und im

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