Der Tod meiner Mutter
Rollen umgedreht
hatten.
Und so standen wir uns am Ende zwar als Mutter und Sohn gegenüber. Unsere Bande waren nun aber stärker, schwächer, anders.
Es blieb ihre Zurückhaltung, wenn es darum ging, mich zu beeinflussen. Es blieb meine Scheu, wenn es darum ging, sie zu befragen.
Ich, das Einzelkind, das Scheidungskind. Sie, meine Mutter, die mich alleine ließ mit meiner Frage, was eine Familie ist,
jenseits der Wut, die sie in sich trug, wegen der Feigheit und Verlogenheit ihrer eigenen Eltern.
»Ich habe doch gut gelebt«, das hatte sie immer wieder gesagt, und wie so vieles war auch dieser Gedanke lange entschwunden.
»Ich habe doch ein gutes Leben gehabt«,das war für sie mehr eine Feststellung als eine Frage gewesen, das hatte wie eine Aufmunterung geklungen, wie ein Antrieb,
das war ein Satz, der ihr half, der Enge zu entfliehen, die das Sterben für sie bedeutete.
Sie saß jetzt etwas nach vorne gebeugt im Rollstuhl, es schien nicht so, als ob sie über etwas Bestimmtes nachdachte. Die
Sonne war hinter den Häusern verschwunden, und eine Ahnung von Dämmerung blieb über uns. Ich schob den Rollstuhl so vor mir
her, dass ich das Gesicht meiner Mutter ein wenig sehen konnte. Sie schlief nicht. Sie hatte gesagt, dass sie noch zu dem
Getränkeladen wollte, wo sie ihr Wasser kaufte, das ein Nachbarsjunge für sie abholte und ihr in die Wohnung brachte. Ein
Klosterwasser, das besonders schonend sein sollte, es standen immer ein paar Flaschen in ihrer Nähe, aber sie trank zu wenig,
sie trank viel zu wenig, das sagte ihr Arzt, das sagte ich, und irgendwann antwortete sie nicht einmal mehr.
Sie richtete sich auf und winkte durch die offene Tür in den Getränkeladen hinein.
»Ja hallo, Frau Diez«, sagte die Frau und kam zwischen den Bierkästen hervor, die fast den ganzen Raum verstellten. »Schön,
Sie mal wieder zu sehen. Wie geht es denn?«
Die Frau trug eine graue Schürze und ein graues Gesicht. Sie wollte meiner Mutter erst die Hand auf die Schulter legen, hielt
dann aber mitten in der Bewegung an und ließ die Hand etwa zehn Zentimeter über der Schulter meiner Mutter in der Luft schweben.
Meine Mutter lächelte und bewegte dabei ihre Hand so, als würde sie eine Glühbirne in die Fassung drehen und wieder hinaus.
»Wie viel schulde ich Ihnen denn?«
»Das kann ich Ihnen gleich sagen.«
Die Frau ging zurück in den Laden. Sie war klein und alt auf eine unbestimmte Art. Sie schaute einen kaum an, wenn sie mit
einem sprach. Aber immer, wenn ich da war, um eine Rechnung zu bezahlen, fragte sie nach meiner Mutter. Kurz schien es dann,
als ginge ein Licht an, weit hinten in ihren Augen. Sie versuchte zu lächeln, was ihr nicht gelang, und das Licht ging wieder
aus.
»Elf Euro zehn«, sagte sie, als sie zwischen den Bierkästen hindurch zu uns zurückkam.
Meine Mutter zog unter ihrer Decke die schwarze Plastiktasche heraus, die sie sogar im Bett bei sich hatte, neben ihrem Kopfkissen
in einem roten Pappkarton, ihre EC-Karte war darin und ihr Personalausweis, 1000 Euro in bar waren darin und viele Zettel,
auf die sie mit verwackelter roter Schrift Sachen geschrieben hatte, die sie nicht vergessen wollte. Den Namen der Pflegerin
zum Beispiel, die sie abends wusch. Sie gab mir die Tasche, und ich holte aus einem der kleinen Reißverschlussfächer das Geld
heraus. Ich zahlte und gab die Tasche meiner Mutter zurück, die sie wieder unter ihre Decke schob.
»Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen.«
»Eine nette Frau«, sagte meine Mutter, als wir einpaar Meter entfernt waren. Dann drehte sie den Kopf erst nach rechts und dann nach links, wo ein Laden war, in dem man Tee
und Kissen kaufen konnte.
»Der ist neu, der Laden«, sagte sie, »den kenne ich noch gar nicht.«
Kurz blieben die Worte stehen, dann fielen sie in sich zusammen.
Wir bogen in die Hans-Sachs-Straße ein. Vor dem Fahrradladen hielt ich an und klopfte an die Tür. Aus dem Halbdunkel kam ein
Mann und öffnete.
»Grüß Gott, Frau Diez«, sagte er zu meiner Mutter, »Sie wollen wissen, ob das Rad schon verkauft ist?«
Meine Mutter nickte. Es war ein Fahrrad mit besonders niedriger Stange, das sie sich gekauft hatte, als sie die Füße nicht
mehr so hoch heben konnte. Bis vor einem Jahr war sie damit ins Theater gefahren und manchmal auch zum Einkaufen.
»Jetzt wird es ja bald Winter.«
»Wir können das Rad gern bei uns aufheben und im nächsten Frühjahr verkaufen.«
»Das wäre
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