Der Tod meiner Mutter
Ich verstand das immer erst mit Verzögerung.
»Hallo, Frau Diez«, sagte die Frau, die den Kaffee brachte, es war eine andere, eine ähnliche Frau, sie hatte eine Schürze
um und kräftige Arme und schaute meine Mutter an wie eine große Schwester ihre kleine.
»Wie geht es Ihnen?«
»Ach, nicht so gut.«
»Ich habe gehört, Sie werden Großmutter?«
»Ist das nicht schön?«
»Hier, für Sie. Und kommen Sie bald wieder.«
Die Frau reichte ihr eine Packung Pralinen in einem kleinen grünen Pappkarton mit rosa Schleife. Meine Mutter hielt den Karton
in der einen Hand und die Tüte mit den Socken in der anderen. Die Frauen hier im Laden mochten meine Mutter, meine Mutter
war beliebt. Das war eine seltsam schöne, fast fremde und voyeuristische Erkenntnis für mich.
Wir blieben noch ein wenig in der Ecke stehen und sahen den Menschen zu, die zur Tür hereinkamen, die einen Kaffee bestellten
oder ein paar Pralinen kauften oder einen Wein und die dann wieder hinausgingen.
Ich dachte oft an den Tod in diesen Tagen. Als etwas, das auf dem Plan stand, das erledigt werden musste.Als etwas Unangenehmes, für das es keinen genauen Termin gab, das aber bald gemacht werden musste.
Ich wusste nicht, wie meine Mutter sich den Tod vorstellte, ich wusste nur, dass sie sicher war, im Himmel würde Bach gespielt.
Nur leider glaubte sie nicht an den Himmel.
Ich sehe sie als Mädchen, wie sie in der ungeheizten Liebfrauenkirche in Bremen an der Orgel sitzt, sie bewegt die Füße furios
hin und her, ein dunkelhaariges Mädchen mit großen Augen, um sie herum nichts als diese Musik. Sehr weit weg ist dieses Mädchen
von der Frau, die meine Mutter war.
»Willst du nicht mal wieder Musik hören?«, fragte ich sie immer wieder, es war so still in ihrer Wohnung und die Zeit war
so lang. Sie lag im Bett und starrte an die Wand, den Kopf zur Seite gedreht, leer der Blick.
»Nein«, sagte sie meistens, einfach nein. Und einmal sagte sie, dass sie Bach nicht mehr hören könne. Händel, das ging eine
Weile noch, das war nicht ganz so heilig wie Bach. Aber auch Händel ging schon lange nicht mehr.
Meine Mutter war nie gläubig, obwohl sie Orgel und Kirchenmusik studiert und einen Pfarrer geheiratet hatte. Sie liebte die
Musik, Gott blieb ihr fremd. Sie leitete den Kirchenchor, so wie auch zwei ihrer Brüder lange einen Kirchenchor leiteten,
aber ihnen wie ihr ging es nicht um Religion und nicht einmal um die Institution Kirche, nur um die Musik. Ihre Mutter Martha
hatte sich in der Gemeinde engagiert und vielleicht selbst nicht gemerkt, dass es ihr hier, wie auch sonst im Leben, vor allem
darum ging, den Schein zu wahren,voranzukommen, etwas darzustellen. Kirche war das, was meine Großmutter machte, um sich besser, wichtiger, wertvoller zu
fühlen.
Ihren Kindern verbaute sie so den Weg zum Glauben. Meine Mutter war eine Agnostikerin, die zur Atheistin wurde, als der Bruch
mit der Kirche in ihre Biografie passte. Sie war nicht mehr in einem Gottesdienst gewesen, seit sie sich hatte scheiden lassen,
sie hatte die Orgel hinter sich gelassen und damit diesen ganzen Teil ihres Lebens. Auch wenn sie die Musik vermisste. »Ich
habe Angst, dass ich weinen muss«, hatte sie gesagt, als wir doch noch einmal in die Kirche gingen, in Berlin, weil ich darüber
schreiben musste, über einen Gottesdienst als Theaterinszenierung, das hatte ihr Spaß gemacht, das war in ihrem Sinn gewesen.
Distanziert und ironisiert genug, um es genießen zu können. Sie hatte dann auch nicht geweint.
Sie suchte nach etwas, gerade zum Schluss, da bin ich mir sicher, aber es war nichts mehr da. Gott ist Zeit oder Zeit ist
Gott, das hatte ein Freund von ihr einmal gesagt. Das hatte sie überzeugt, so konnte sie sich das vorstellen.
Zeit und Musik.
»Das war ein schöner Nachmittag«, sagte sie, als wir wieder in ihre Wohnung kamen. Der Ausflug war anstrengend für sie gewesen,
das merkte ich jetzt. Sie wollte nichts essen und auch nichts trinken. »Wenigstens etwas Wasser«, bat ich sie, aber meine
Mutter schüttelteden Kopf und lächelte, als wisse sie etwas, das ich nicht wusste.
Sie wollte gleich ins Bett, also fuhr ich sie mit dem Rollstuhl in ihr Zimmer, sie setzte sich mit Mühe gerade hin, ich nahm
sie bei den Händen und hob sie vorsichtig an, als ob ihre Hände abreißen könnten, sie stand kurz, drehte sich und sank auf
die Matratze. Ich zog ihr die Schuhe aus und den Mantel, alles andere behielt sie an,
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