Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens
schon Hunderte Male getan hatten. Als wir am Schwesternzimmer vorbeikamen, saßen dort die Kaffeevernichter in ihren weißen Kostümen und begingen den täglichen Genozid an Kaffeebohnen und ihren Lungenbläschen in Form von besonders qualmigen Zigaretten. Aus dem Radio drang, wie so oft in diesen Tagen von 1982, „Ein bisschen Frieden”, was mir damals schon irgendwie sehr unecht vorkam. Unecht, weil es selbst mir als Kind, während wir die Übertragung des Grand Prix d’Eurovision de la Chanson im Fernsehen sahen, den Eindruck vermittelte, als wäre das Lied extra dafür gebastelt, zu gewinnen. Wie auch immer … wenn ich heute an diese Melodie in Bezug auf diesen Tag und meine Oma denke, läuft es mir immer noch eiskalt den Rücken herunter. Jedenfalls nickten meine Eltern den Schwestern in ihrem Zimmer zu, und diese nickten durch den Nebel zurück, bevor wir im Zimmer meiner Oma verschwanden.
Wie gewohnt lag sie in ihrem Bett und fokussierte die Decke, als ob sie die Löcher in den Platten dort zählen würde. Meine Eltern gaben ihr einen Kuss, ich drückte ihre Hand. Was die Knutscherei mit meiner Oma anging, hatte ich wirklich genug für ein ganzes Leben. Sie schaute uns an, als wären wir wildfremde Menschen, während mein Vater erzählte, was sich in der letzten Woche so zugetragen hatte. Meine Blicke richteten sich vereinzelt auf die Dame, die in dem anderen Bett des Zimmers vor sich hin siechte. Noch nie hatte sie irgendetwas gesagt. Das einzige Geräusch, das sie von sich gab, war eine Art „Na-Nuff, Na-Nuff”, und sie wiederholte es wie ein Mantra.
Es war alles wie immer. Dann kam einer der Ärzte herein, der sich mit meinen Eltern über meine Oma unterhalten wollte. Sei es aus Pietäts- oder anderen Gründen gewesen, sie gingen vor die Tür und ließen mich mit Oma und der anderen Dame allein.
Waren es fünf Minuten? Zehn Minuten? Ich saß am Bett und streichelte die Hand meiner Oma, als plötzlich eine große Person neben uns stand. Unter dem schwarzen Umhang blickte ein Gesicht, welches definitiv etwas mehr Sonne vertragen konnte, mit durchdringenden Augen meine Großmutter an. Ich weiß noch ganz genau, dass er eine Hand auf das Gestell am Fußende legte, während er sich mit dem anderen Arm auf die große Stange mit dem langen Kescher am Ende stützte.
Man kann mit Sicherheit sagen, dass er eine beängstigende Erscheinung hätte sein können. Aber entgegen der landläufigen Meinung, er wäre ein Skelett, hatte er das Gesicht eines Mannes in seinen späten Zwanzigern oder anfänglichen Dreißigern und so gar nichts Bedrohliches. Im Gegenteil, sein Lächeln strahlte eine vollkommene Ruhe aus. Obwohl ich keine Angst verspürte, kam ich nicht umhin, ihn anzustarren.
„Wer bist denn du?”, fragte ich unschuldig.
Sein Kopf bewegte sich langsam, und sein Erstaunen zeichnete sich deutlich ab. „Hast du mit mir gesprochen?“
Seine Stimme war wie eine Mischung aus Barry White und Peter Lustig. Sie war ungewöhnlich tief für einen Mann seiner Statur. An Peter Lustig erinnerte sie mich, weil es mir vorkam, als könnte man ihm stundenlang zuhören, wie er einem die einfachsten Dinge erklärt. Mein Vater hätte das vermutlich als Gebrauchtwagenverkäuferstimme bezeichnet.
„Ja. Ich wollte wissen, wer du bist.“ Mein siebenjähriges Ich hatte tatsächlich nicht die geringste Ahnung.
„Du kannst mich wirklich sehen? Und hören?“
„Klar. Du stehst doch da.“
Ein breites Grinsen zog sich über sein Gesicht. Das Grinsen, das ich in den folgenden Jahren noch oft sehen sollte. Mit einer schnellen Bewegung, die mich dann doch erschreckte, hatte er sich zu mir heruntergebeugt und starrte nun wiederum mich an.
„Du bist ein interessantes kleines Kerlchen.“
„Wieso?“
„Du bist anders.“
„Warum bin ich anders?“
„Weil mich Leute eigentlich nicht sehen können, du aber schon.“
„Aber du stehst doch direkt vor mir, warum sollte ich dich nicht sehen können?“
„Weil ich der Tod bin, Kind.“
Er hatte sich wieder zu seiner vollen Größe aufgerichtet. Rückblickend hätte es für mich nicht so imposant aussehen dürfen, aber für einen Siebenjährigen grenzen 1,80 Meter schon nahezu an einen Riesen.
„Aber der Tod ist doch kein Mensch. Menschen sterben einfach. Und dann sind sie tot. Oder bringst du die Menschen um?“, fragte ich wohl etwas naiv.
„Ich bringe niemanden um“, sagte er und wandte sich wieder meiner Oma zu. „Ich hole nur die Toten.“
Meine Großmutter
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