Der Törichte Engel
sehen, ob ich nicht bei uns im Garten einen Baum fällen kann.« Sie wendete auf dem Parkplatz und fuhr nach Hause.
Schweißnass entledigte sich Lena Marquez ihres Weihnachtsmannkostüms wie eine kleine Echse, die sich aus einem flauschig roten Ei pellt. Noch vor dem Ende ihrer Schicht am Thrifty-Mart war die Außentemperatur bis auf siebenundzwanzig Grad im Schatten angestiegen, und es kam ihr vor, als hätte sie in dem schweren Anzug mindestens drei Kilo ausgeschwitzt. Nur mit BH und Slip bekleidet, tappte sie ins Badezimmer und hüpfte auf die Waage, um sich an dem unerwarteten Gewichtsverlust zu erfreuen. Die Scheibe drehte sich und blieb bei ihrem normalen Prä-Pinkel-Gewicht stehen. Genau richtig für ihre Größe, wenig für ihr Alter, aber verflucht noch eins, sie hatte mit ihrem Exmann gestritten, war mit Eiswürfeln verprügelt worden, hatte für die Interessen der Unterprivilegierten geworben und acht Stunden lang die Hitze im Weihnachtsmannkostüm ertragen – für ihre Bemühungen hatte sie sich doch etwas verdient.
Sie zog BH und Slip aus und stieg noch einmal auf die Waage. Kein erkennbarer Unterschied. Verdammt! Sie setzte sich hin, pinkelte, wischte ab und sprang erneut auf die Waage. Vielleicht zweihundert Gramm unter normal. Ah.’, dachte sie und strich den Bart beiseite, damit sie die Waage besser ablesen konnte. Das mochte das Problem gewesen sein. Also nahm sie den weißen Bart und ihre rote Mütze ab, warf beides ins angrenzende Wohnzimmer, schüttelte ihr langes, schwarzes Haar und wartete darauf, dass die Waage sich beruhigte.
Oh ja. Zwei Kilo. Vor Freude vollführte sie einen kleinen Tae-Bo-Kick und stieg unter die Dusche. Als sie sich einseifte und dabei an eine wunde Stelle neben ihrem Solarplexus kam, zuckte sie zusammen. Sie hatte blaue Flecken von diesem Eisbeutel. Zwar hatte sie schon schlimmere Schmerzen gehabt, nach zu vielen Sit-ups im Fitness-Center, doch diesen Schmerz spürte sie bis ins Herz. Vielleicht war es der Gedanke daran, das Weihnachtsfest das erste Mal seit der Scheidung allein verbringen zu müssen. Ihre Schwester, bei der sie die letzten Jahre Weihnachten verbracht hatte, flog mit ihrem Mann und den Kindern nach Europa. Dale – kompletter Wichser, der er war – hatte sie früher in alle möglichen Feiertags-Aktivitäten verstrickt, von denen sie nun ausgeschlossen war. Der Rest ihrer Familie lebte drüben in Chicago, und seit Dale hatte sie mit Männern nicht viel Glück gehabt – zu viel Restzorn und Misstrauen. (Er war nicht nur ein Wichser gewesen, er hatte sie betrogen.) Ihre Freundinnen, die allesamt verheiratet oder mit semipermanenten Freunden zusammen waren, erklärten ihr, sie müsse eine Weile Single bleiben und etwas Zeit damit verbringen, sich selbst kennen zu lernen. Das war natürlich völliger Schwachsinn. Sie kannte sich, mochte sich, wusch sich, zog sich an, kaufte sich Geschenke, führte sich selbst abends aus und hatte sogar hin und wieder Sex mit sich selbst, was am Ende immer besser war als damals mit Dale.
»Oh, dieses ganze Lern-dich-selber-kennen wird dich in den Wahnsinn treiben«, sagte ihre Freundin Molly Michon. »Und, glaub mir, ich bin die ungekrönte Königin des Wahns. Als ich mich beim letzten Mal richtig kennen gelernt habe, hat sich rausgestellt, dass da drinnen eine ganze Bande von Weibern war, mit denen ich fertig werden musste. Ich kam mir vor wie die Rezeptionistin in einer Irrenanstalt. Aber eins muss ich sagen: Sie hatten alle hübsche Titten. Egal, vergiss es. Geh los und tu was für andere. Das ist viel besser für dich. ›Sich selbst kennen lernen‹ – was soll das bringen? Was ist, wenn du dich kennen lernst und feststellst, dass du ein fieser Drachen bist? Klar, ich mag dich, aber auf mein Urteil kannst du nicht bauen. Geh und tu was für andere Leute.«
Sie hatte Recht. Molly konnte manchmal … mh, exzentrisch sein, aber gelegentlich kam doch etwas Vernünftiges heraus. Also hatte sich Lena freiwillig für eine Sammelbüchse der Heilsarmee gemeldet, hatte Dosenfutter und tiefgefrorene Truthähne für Pine Coves Anonyme Lebensmittelspende gesammelt, und morgen Abend, bevor es dunkel wurde, wollte sie losgehen, echte Weihnachtsbäume besorgen und sie Leuten vor die Tür legen, die sich wahrscheinlich keine leisten konnten. Damit wollte sie sich ablenken. Und falls es nicht klappte, wollte sie Heiligabend auf der Lonesome Christmas Party in der Kapelle von Santa Rosa verbringen. Oh Gott, jetzt war es so weit. Es
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