Der Totenleser
den Milchbrei, daneben die Karpfenklößchen. Sein Blick fiel auf die rußgeschwärzte Kochstelle und das Waschbecken voller Sprünge. Dieser Ort glich eher einer alten Schmiede als einem behaglichen Heim, dachte Ci missmutig.
Kurz darauf erschien hinkend sein Vater, sein Anblick versetzte Ci einen Stich. Wie alt er geworden war! Fast schien es, als sei seine Gesundheit gleichzeitig mit der von Mei Mei gewichen. Mit unsicheren Schritten und gesenktem Blick wankte der Alte an den Tisch, sein spärlicher Bart hing ihm in dünnen Fäden vom Kinn. Kaum ein Funken mehr des geschäftigen und gewissenhaften Beamten war zurückgeblieben, der Ci die Liebe zur Methodik und zur Genauigkeit weitergegeben hatte. Müde betrachtete der Vater seine groben und schwieligen Hände, die früher stets außerordentlich gepflegt gewesen waren. Sicher vermisste er die Tage, an denen er sie gebraucht hatte, um Justizakten zu studieren. Am Tisch ging er schwerfällig in die Knie, stützte sich dabei auf seinen Sohn und lud die anderen mit einer Geste ein, Platz zu nehmen. Ci folgte dem Wunsch des Familienoberhauptes, und die Mutter setzte sich an die Seite des Tisches, die der Küche am nächsten war. Die Frau schenkte Reiswein ein. Mei Mei gesellte sich nicht zu ihnen an den Tisch, zu matt war sie vom Fieber, wie schon die ganze Woche.
»Bist du heute zum Abendessen da?«, fragte die Mutter. »Nach so vielen Monaten wird es Richter Feng sicher freuen, dich wiederzusehen.«
Um nichts auf der Welt hätte Ci sich das Treffen mit Feng entgehen lassen. Ohne erkennbaren Grund hatte sein Vateroffenbar beschlossen, die Trauerzeit vorzeitig zu beenden und nach Lin’an zurückzukehren – in der Hoffnung, dass Richter Feng ihn wieder einstellen würde? Er wusste nicht, ob Feng aus diesem Grund ins Dorf kam, aber das war es, was sie alle im Stillen herbeiwünschten.
»Lu hat mir aufgetragen, den Büffel hoch auf die neue Parzelle zu bringen, und dann wollte ich Kirschblüte besuchen, aber zum Essen bin ich wieder da.«
»Kaum zu glauben, dass du zwanzig Jahre alt bist. Dieses Mädchen verdreht dir vollkommen den Kopf«, sagte sein Vater. »Wenn du dich weiterhin so häufig mit ihr triffst, kannst du sie bald nicht mehr sehen.«
»Kirschblüte ist das einzig Gute, das dieses Dorf zu bieten hat. Außerdem darf ich daran erinnern, dass ihr selbst unsere Hochzeit vereinbart habt«, gab Ci zurück, während er den letzten Bissen herunterschluckte.
»Nimm die Süßigkeiten mit, dafür habe ich sie gemacht«, bot ihm die Mutter an.
Ci erhob sich und verstaute die Süßigkeiten in seinem Beutel. Bevor er hinausging, verabschiedete er sich von Mei Mei, die im Dämmerschlaf lag, küsste ihre heißen Wangen und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Das Mädchen blinzelte. Er zog die Süßigkeiten hervor und schob sie unter ihre Decke.
»Lass das die Mutter nicht sehen«, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie lächelte stumm, zu schwach, um etwas zu erwidern.
* * *
Der Regen spornte Ci zur Eile an, während er durch den Schlick des Reisfeldes stapfte. Er zog das durchnässte Hemd aus, und seine Arme spannten sich, als er die Peitsche auf denBüffel hinabsausen ließ, der nur langsam vorankam, so als spürte er, dass auf diese Furche nur eine weitere folgen würde, und auf diese immer noch eine weitere.
Sein Bruder hatte ihm aufgetragen, einen Kanal auszuheben, um das neue Feld trockenzulegen, doch die Arbeit am Feldrain erwies sich als äußerst mühsam wegen der Steindämme, die die Felder voneinander trennten. Erschöpft ließ Ci seinen Blick über das überflutete Reisfeld wandern, es glich einem einzigen Schlammloch. Seufzend trieb er den Büffel an, sich weiter durch den Schlick zu arbeiten. Plötzlich blieb der Pflug stecken.
»Schon wieder eine Wurzel«, fluchte Ci.
Unbarmherzig prasselte der Regen auf Herr und Tier nieder. Ci versuchte, den Büffel rückwärts aus dem Schlamm zu bugsieren, doch der Pflug bewegte sich keinen Millimeter. Resigniert sah er auf.
»Ich habe keine Wahl.«
In vollem Bewusstsein des Schmerzes, den er dem Tier zufügte, riss er an dem Metallring, den es in der Nase trug, und zog gleichzeitig die Zügel an. Der Büffel machte einen Satz nach vorn, und der Pflug ließ ein knirschendes Geräusch vernehmen. In dem Augenblick wurde Ci klar, dass er erst die Wurzel hätte ausreißen müssen.
»Verdammt, wenn ich den Pflug kaputtgemacht habe, setzt es eine ordentliche Tracht Prügel von meinem Bruder.«
Er holte tief
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