Der Totenleser
überzogenes Gesicht war wie gewohnt von einem gepflegten grauen Bart umsäumt. Seinen Kopf krönte eine zweiflügelige Seidenkappe, die seinen Rang anzeigte.
»Ehrenwerter Richter Feng«, brachte Ci hervor. »Entschuldigt meine Verspätung, aber …«
»Mach dir keine Gedanken, mein Sohn«, sagte Feng. »Komm rein, du bist ja völlig durchnässt.«
Ci eilte in sein Zimmer und kam gleich darauf mit einem kleinen Päckchen zurück, das in ein edles rotes Papier eingeschlagen war. Seit einem Monat wartete er auf diesen Moment.Seit er wusste, dass Richter Feng sie nach so langer Zeit wieder einmal besuchen würde.Wie es Sitte war, lehnte Feng das Geschenk zunächst drei Mal ab, bevor er es schließlich annahm.
»Das wäre doch nicht nötig gewesen.« Der Richter betrachtete das Päckchen, ohne es auszuwickeln, denn sonst würde es bedeuten, dass er dem Inhalt mehr Bedeutung beimaß als der Geste des Schenkens an sich.
»Er ist gewachsen, das ja, aber wie Ihr seht, ist er genauso verantwortungslos wie immer«, sagte Cis Vater.
Ci zögerte. Die Regeln der Höflichkeit verboten, dass er den Gast mit Dingen belästigte, die nichts mit seinem Besuch zu tun hatten, doch vielleicht erlaubte ein Mordfall, sich ausnahmsweise über diese Regeln hinwegzusetzen. Er sagte sich, dass der Richter schon Verständnis haben würde.
»Verzeiht die Unhöflichkeit«, platzte es aus Ci heraus, »aber ich muss Euch etwas Schreckliches erzählen. Man hat Shang ermordet! Er wurde geköpft!«
Sein Vater betrachtete ihn ernst.
»Ja, dein Bruder Lu hat uns davon erzählt. Jetzt setz dich, wir essen. Wir wollen unseren Gast nicht länger warten lassen.«
Ci konnte nicht fassen, mit welcher Gelassenheit sein Vater und Feng das Geschehene zur Kenntnis nahmen. Shang war der beste Freund seines Vaters gewesen, und trotzdem saß er seelenruhig mit dem Richter beisammen und aß, als wäre nichts passiert. Ci versuchte es ihnen gleichzutun, doch wollte ihm das Mahl nicht schmecken. Das entging seinem Vater nicht.
»Wir können nichts mehr tun, Ci«, sagte er. »Lu hat Shangs Leichnam den Behörden übergeben, und seine Familie hält bei ihm Totenwache. Du weißt doch, dass Richter Feng indieser Subpräfektur nicht zuständig ist, also können wir nur darauf warten, dass man einen Justizbeamten schickt, der den Fall untersucht.«
Das wusste Ci in der Tat, doch er wusste auch, dass der Mörder bis dahin über alle Berge sein konnte. Und was ihn am meisten irritierte, war die Ruhe seines Vaters. Feng schien seine Gedanken zu lesen.
»Ich habe mit den Angehörigen gesprochen«, sagte der Richter. »Morgen werde ich die Leiche untersuchen.«
Den übrigen Abend sprachen sie über andere Dinge, während der Regen wütend auf das Schieferdach trommelte. Im Sommer wurde die Gegend oft überraschend von Taifunen heimgesucht, und diesmal schien es Lu erwischt zu haben. Vollkommen durchnässt kam er nach Hause, nach Likör stinkend und mit trüben Augen. Beim Eintreten stolperte er ungeschickt, grüßte den Richter knapp mit einer unverständlichen Formel und verschwand direkt in sein Zimmer.
»Ich glaube, für mich ist es an der Zeit, aufzubrechen«, sagte Feng und strich sich über den Bart. »Ich hoffe, du denkst nach über das, was wir besprochen haben«, fügte er an den Vater gewandt hinzu. »Und was dich betrifft, Ci, wir sehen uns morgen zur Stunde des Drachens, beim Haus des Dorfvorstehers, wo ich wohne.«
Als sich die Tür hinter Richter Feng schloss, sah Ci seinen Vater forschend an. Sein Herz klopfte erwartungsvoll.
»Hat er zugestimmt? Hat er gesagt, wann wir zurückkommen können?«, wagte er schließlich zu fragen.
»Setz dich, mein Sohn. Noch eine Tasse Tee?«
Der Vater goss sich die Tasse bis obenhin voll, dann schenkte er seinem Sohn ein. Traurig sah er Ci erst an, dann senkte er den Blick.
»Es tut mir leid, Ci. Ich weiß, wie gerne du nach Lin’anzurück willst …« Geräuschvoll nahm er einen Schluck Tee. »Aber manchmal laufen die Dinge anders, als man sie plant.«
Ci ließ seine Tasse in der Luft schweben. »Das verstehe ich nicht! Ist etwas passiert? Hat Feng Euch den Posten nicht angeboten?«
»Doch. Das hat er gestern getan.« Der Vater nahm einen weiteren Schluck.
»Und?« Ungeduldig stand Ci auf.
»Setz dich, mein Sohn.«
»Aber Vater … Ihr habt es versprochen … Ihr habt gesagt …«
»Setz dich, bitte, habe ich gesagt!«
Ci musste schlucken, doch er gehorchte.
»Mein Sohn, es gibt Dinge, die du nicht
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