Der Totenleser
1
An diesem Morgen war Ci früh aufgestanden, um ein Zusammentreffen mit seinem Bruder Lu zu vermeiden. Die Augen fielen ihm ständig zu, doch auf dem Reisfeld würde er keine Müdigkeit zeigen dürfen.
Er setzte sich auf und rollte die Schlafmatte zusammen. Das Aroma des Tees, den seine Mutter jeden Morgen zubereitete, erfüllte das bescheidene Haus. Als er den großen Raum betrat, grüßte er sie mit einem Kopfnicken, sie antwortete ihm mit einem versteckten Lächeln, das er erwiderte. Er liebte die Mutter beinahe genauso sehr wie seine jüngste Schwester Mei Mei, deren Name ebendies bedeutete, ›kleine Schwester‹. Die beiden anderen Schwestern, Eins und Zwei, waren früh gestorben, an einer Familienkrankheit. Mei Mei war die Einzige, die noch lebte, und auch sie war krank.
Bevor er etwas aß, ging er hinüber zu dem kleinen Altar, den sie im Gedenken an seinen Großvater in der Nähe eines Fensters aufgestellt hatten. Er öffnete die Fensterläden und atmete tief ein. Draußen drangen die ersten schüchternen Sonnenstrahlen durch den Nebel. Der Wind schüttelte die Chrysanthemen, die im Krug für die Opfergaben standen, und blies Rauchspiralen ins Wohnzimmer, die von den Duftstäbchen aufstiegen. Ci schloss die Augen, um Fürbitte zu halten, doch in seinem Kopf formte sich nur ein einziger Gedanke: »Geister des Himmels, erlaubt uns, nach Lin’an zurückzukehren.«
Er erinnerte sich an die Zeit, als seine Großeltern noch lebten. Damals war das Dorf für ihn ein Paradies gewesen, und sein Bruder Lu ein Held, dem jedes Kind nacheiferte. Lu war wie der große Krieger in den Legenden, die seinVater erzählte, stets bereit, ihn, den Jüngeren, zu verteidigen, wenn andere Kinder versuchten, ihm sein Stück Obst zu klauen, oder die unverschämten Burschen zu verjagen, die es auf seine Schwestern abgesehen hatten. Lu hatte Ci beigebracht, mit Händen und Füßen zu kämpfen, um seine Gegner zu besiegen, hatte ihn mit zum Fluss genommen, um zwischen den Booten zu planschen und Karpfen und Forellen zu fangen, die sie dann stolz nach Hause trugen. Und er hatte ihm gezeigt, wo die besten Verstecke waren, um heimlich die Nachbarinnen zu beobachten. Doch mit zunehmendem Alter wurde Lu eitel. Seit seinem fünfzehnten Geburtstag hörte er gar nicht mehr auf, mit seiner Kraft zu prahlen, und jede andere Gabe, die nicht zum Ziel hatte, als Gewinner aus einem Zweikampf hervorzugehen, schien ihm minderwertig. Er begann, Katzenjagden zu organisieren, um vor den Mädchen anzugeben, er betrank sich mit Reislikör, den er aus den Küchen stahl, und er brüstete sich, der Stärkste der Gruppe zu sein. Seine Eitelkeit ging so weit, dass er sogar den Spott der Mädchen als Schmeichelei interpretierte und nicht bemerkte, dass sie ihn in Wirklichkeit mieden. Allmählich wurde Ci der Angeberei seines Bruders müde und empfand für das große Idol seiner Kindheit mit der Zeit nur noch Gleichgültigkeit.
Allerdings hatte sich Lu mit seinem Verhalten nie in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht, abgesehen von ein paar blauen Augen nach Raufereien und von der Geschichte mit dem Dorfbüffel, den er als Einsatz bei einem Schwimmwettkampf missbraucht hatte. Als der Vater ihm seine Absicht mitteilte, in die Hauptstadt Lin’an zu gehen, weigerte sich Lu rundheraus, ihn zu begleiten. Er war bereits sechzehn, er fühlte sich wohl auf dem Land und dachte nicht daran, das Dorf zu verlassen. Er sagte, im Dorf habe er alles, was er brauche:das Reisfeld, seine Gruppe von Kraftmeiern und zwei oder drei Prostituierte aus der Umgebung, die über seine Sprüche lachten. Obwohl sein Vater damit drohte, ihn zu verstoßen, ließ er sich nicht beirren. In jenem Jahr trennten sich die Wege von Lu und Ci. Lu blieb im Dorf, während die übrige Familie in die Hauptstadt zog, auf der Suche nach einer besseren Zukunft.
Die erste Zeit in Lin’an war schwer für Ci. Jeden Morgen stand er bei Sonnenaufgang auf, um nach seiner Schwester zu schauen, ihr Frühstück zu machen und sich um sie zu kümmern, bis seine Mutter vom Markt zurückkam. Dann schlang er schnell eine Tasse Reis hinunter und ging in die Schule. Dort blieb er bis mittags, dann eilte er in das Schlachthaus, in dem sein Vater arbeitete, um ihm für den Rest des Tages zur Hand zu gehen. Abends, wenn er die Küche geputzt und die Gebete für seine Vorfahren gesprochen hatte, paukte er die konfuzianischen Lehren, die er am nächsten Morgen in der Schule aufsagen musste. So ging es mehrere Monate lang,
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